Daniele Dell'Agli : Essays : Gastrosophie


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Den Wölfen zum Fest.

Ein gastrosophischer Köder

Da stiegen aus dem Nil sieben fette, schöne Schafe und weideten im Grase. Nach ihnen stiegen sieben andere Schafe heraus, mager und überaus häßlich. Dann fraßen die magern, häßlichen Schafe die sieben ersten, fetten Schafe auf. Hierauf erwachte der Wolf (frei nach Genesis 41, 19-22). Der Alptraum des Pharaoh dürfte mittlerweile nicht nur Dolly-Fans verfolgen, sondern alle, die beschlossen hatten, sich von den beunruhigenden Nachrichten und den grausigen Bildern von der Fleischfront nicht den Appetit verderben zu lassen. Denn nun, nach mehr als sieben Wochen wenn nicht der Enthaltsamkeit so doch einer gewissen Vorsicht, eines Zögerns vor Tiefkühltruhen und Metzgertheken und erster halbherziger Ansätze zur Umstellung des Speiseplans, da verdichten sich die düsteren Ahnungen, es könnte die magere Zeit durchaus noch sieben Jahre dauern. Und mitten in dieses Vorgefühl einer unabweisbaren Metanoia, einer Umkehr unserer Ernährungsgewohnheiten läuten die Osterglocken, das Fest der Auferstehung ruft, vorgeschichtlich ein Vegetationskult zur Begrüßung der wiedererwachten Natur, für die abgeklärte Christenheit nur mehr Appell und Lizenz zur Schlemmerei. Ein klassisches Double-bind also: eigentlich kann es nicht so weiter gehen wie bisher, aber am Osterbraten führt auch kein Weg vorbei. Die Lösung kann selbst nur eine paradoxe sein: Wenn es eine Sünde gibt, die hinwegzunehmen das Opferlamm durchaus berufen sein könnte, dann wäre dies unsere Fleischgier. Wie das?

Der saturierte Endverbraucher der industrialisierten Fleischproduktion sieht sich von einem Unbehagen ergriffen, in dem sich die Angst um gesundheitliche Risiken mit dem schlechten Gewissen und dem Abscheu angesichts des Zustandekommens seines täglichen Inputs mischt. Unter welch unwürdigen Bedingungen Schlachttiere gehalten und gemästet werden, wird er künftig schon deshalb nicht mehr so leicht verdrängen können, weil deutlich geworden ist, daß schon die Massenproduktion eine Abfallproduktion ist: Wegwerffleisch von Wegwerftieren für...? Richtig: Wenn der Mensch ist, was er ißt, dann entwertet er sich in diesem Kreislauf selbst zum Abfallbehälter, bestenfalls Durchlauferhitzer für Proteinsubstrate. Seitdem er diesen besonderen Stoff immer und an jeder Ecke, zu jedem Preis, in jeder beliebigen Menge kaufen kann, ist der Mensch zum Sarkophag, wörtlich zum Fleischvertilger, zum Tiersarg geworden: das kann ihm schon aus Gründen der Selbstachtung nicht länger gleichgültig bleiben.

Ebensowenig wie die Einsicht, daß zum Savoir-vivre ein Sinn für das Kostbare gehört, das sich durch Seltenheit auszeichnet, und das wir weder kosten noch schätzen lernen, wenn wir es täglich verbrauchen. Die Pointe des habitualisierten Fleischverzehrs ist, daß er einen just um den Effekt betrügt, den man sich insgeheim von ihm verspricht, und der sich nicht in Kilojule, Aminosäuren oder Spurenelemente messen läßt. Es geht um eine Qualität von Belebung und Stärkung der Lebensgeister, wie sie nur von der Einverleibung einer Substanz ausgehen kann, die mit derjenigen des aufnehmenden Organismus zutiefst verwandt ist - vorausgesetzt diese Verwandschaft wird als solche realisiert.

Womit wir beim Lammbraten wären. Dieser verlangt nicht nur eine sorgfältige Zubereitung, sondern auch die Bereitschaft, das Mahl in geselliger Runde einzunehmen und damit sowohl die ursprünglich sozialisierende Funktion des Tieropfers zu aktualisieren als auch jene archaische Geste zu feiern, die am besten dazu taugt, die verschüttete Animalität in uns selber zu erwecken: das Reißen und Abnagen des Fleisches vom Knochen. Daß diese gastrosophischen Grundregeln nicht beachtet werden und mithin die gewünschte Revitalisierung ausbleibt, ist ein wesentlicher Grund für die chronische Gefräßigkeit, mit der die Bewohner der Nordhemisphäre seit den Entbehrungen der Nachkriegszeit ihren Lebenshunger zu kompensieren suchen.

Die leichte Verfügbarkeit des Fleisches allein erklärt jedoch nicht den achtlosen Griff nach der portionfertigen Scheibe, die man nur in die Pfanne zu hauen und einmal zu wenden braucht. Dieser verrät vielmehr etwas von der protestantischen Gleichgültigkeit gegenüber dem Nahrungsmittel als solchem, das von den meisten Deutschen und Angelsachsen grundsätzlich und ohne finanzielle Not einzig nach dem Preis gekauft wird - dem in Mark und Pfennig errechneten, versteht sich, und nicht den von Gesundheit, Ästhetik, Lebenserwartung oder gar ausbleibender Genüsse. Am niedrigsten Instinkt - der Mißachtung dessen, was man zu sich nimmt und wovon man basal lebt - offenbart sich das ungebrochene Fortwirken einer Innerlichkeitskultur, die spätestens seit dem Dreißigjährigen Krieg den Deutschen jeden Sinn für kulinarische Freuden ausgetrieben hat. Daß sich hieran trotz des pädagogischen Eifers unserer Fernsehköche nichts geändert hat, kann man sich an den Reaktionen auf die gegenwärtige Versorgunsghysterie veranschaulichen: die einen verweisen darauf, daß der Fleischkonsum ernährungswissenschaftlich überhaupt nicht gerechtfertigt ist; der Körper könne sich die entsprechenden Proteine, Vitamine und Mineralien auch aus pflanzlichen Lebensmitteln holen. Die Sorge der anderen Gruppe gilt dem gesundheitlich unbedenklichen Fleisch; Keimfreiheit ist das höchste Qualitätssiegel, das sie zu vergeben hat. Die einen tun so, als habe das Essen wie in der Steinzeit ausschließlich der Sicherung der Selbsterhaltung zu dienen; genausogut wie auf Rinderbraten könnten wir dann aber auch auf Autos, Zentralheizungen oder Feuilletons verzichten. Die anderen verschenken das Junktim zwischen artgerechter Tierhaltung und organoleptischen Eigenschaften; für sie ist Nahrungsaufnahme in erster Linie ein medizinisches Problem. Um Geschmack und Genuß geht es beiden nicht. Dabei könnte die Erkenntnis, daß diätetische Aufklärung ohne flankierende Geschmackserziehung dazu verurteilt ist, folgenlos zu bleiben am ehesten einen Paradigmenwechsel in der Landwirtschaft einleiten.

Kulturgeschichtlich ist das von allen rituellen, mythologischen, religiösen und psychogenetischen Konnotationen gereinigte Fleisch, das jeden Geschmack von Tod und Gewalt verloren hat und dessen Form an keine tierische Gestalt mehr erinnert, ein Endprodukt jenes Rationalisierungsunternehmens der Moderne, das seit Max Weber als Entzauberung der Welt beschrieben wird. Parallel zu den technologischen Modernisierungsschüben und dem durch sie forcierten Zivilisationsbruch der industrialisierten Landwirtschaft wurden die symbolischen Orientierungen traditioneller Wertesysteme ebenso liquidiert wie die affektiven Besetzungen des kollektiven Imaginären, die eine zehntausendjährige Symbiose von Mensch, Tier und Pflanze stabilisiert hatten. Innerhalb dieses historischen Wandels hatte das Christentum dadurch, das es als einzige Religion keine generellen Fleischtabus kennt, der Profanisierung karnivorer Gelüste keinen glaubwürdigen Widerstand entgegenzusetzen.

Was bleibt, sind vom Katechismus unberührte, bis auf das Skelett eines Modus abgemagerte Rituale, wie wir sie - mit und ohne Glaubensinhalten - exemplarisch Weihnachten und Ostern vollziehen. Und das ist nicht wenig, wenn wir das Exemplarische darin beherzigen. Denn entscheidend ist, überhaupt Formen der Konvivialität zu bewahren oder zu erneuern, die der Gleichgültigkeit wehren und der Gier Grenzen setzen, der sie zugleich in der Erfahrung der Grenzüberschreitung das Recht auf Regression zugestehen. Wünschenswert und sinnvoll ist demnach ein Drittes zwischen der (unmöglichen) Ausnahme des Sakralen und der (unerträglichen) Regel des Profanen: die geregelte Ausnahme oder die unterbrochene Regel, die es uns erlaubt, unser Verhältnis zum Fleisch und damit zu den Nutztieren wieder zu kultivieren. Wer es zum Beispiel wie der Verfasser mit der mediterranen Diät hält - einmal die Woche Fisch (es muß nicht freitags sein) und einmal Fleisch (es muß nicht sonntags sein) -, bringt es auf ein Viertel des durchschnittlichen Fleischkonsums in Deutschland, ohne auf etwas zu verzichten. Würde eine solche - Genuß und Gesundheit gleichermaßen förderliche - Einstellung sich durchsetzen, könnte die Massentierhaltung innerhalb kürzester Zeit verschwinden und wieder einer extensiven Bio-Wirtschaft Platz machen.

Wenn wir zum Fest der Wölfe also die membra disjecta eines christlichen Korpus zwischen den Zähnen halten, genügt es zu wissen, daß wir an Traditionen der Affektregulierung anknüpfen, die älter sind als jeder Monotheismus; und daß ein Rezeptbuch das Missal so gut ersetzt wie ein Küchenherd den Altar. Die dringend gebotene Sensibilisierung für ein neues gastronomisches Maß ist Aufgabe einer kommenden Geschmackskultur und kann weder durch den naiven Rückgriff auf eine kosmologische Gleichberechtigung aller Lebewesen (die müßte dann auch für Pflanzen gelten), noch durch die abschreckende Beschwörung blutrünstiger, kannibalischer bzw. dionysischer Assoziationen geleistet werden. Denn (frei nach Celan): Wir haben gegessen das Fleisch und das Bild, das im Fleisch war. Jetzt müssen wir uns ein neues machen.

Erstabdruck im Tagesspiegel vom 9.4.2001