Daniele Dell'Agli : Essays : Giftschrank


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Nachlassende Zielstrebigkeit

Über italienischen Taoismus, neuronale Leerläufe und die Aporien des Geschlechterkampfes. Eine agonistische Synopsis

Die Fußball-WM war kaum vorüber, da erloschen sie, schneller noch als sie angeknipst worden waren: die kollektiven Hysterien rund um den Globus, die ungezählte Erdenbürger vier Wochen lang durchzuckten, als seien ihre Seelen am selben weltumspannenden, affektauflösenden Stromkreis angeschlossen gewesen. Und während das Megaspektakel '94 allenfalls noch Bilanzexperten eine Weile beschäftigte, waren die Medien bereits nahtlos zu Shoemaker-Levy rübergeschwenkt, hatten die periodisch aufmerkenden Intellektuellen ihr Engagement wieder konstanteren Themen zugewandt. Das Ereignis scheint so wenig mehr analyse- wie das Phänomen als solches länger verklärungsbedürftig. Und auch der Verfasser wäre geneigt, der allgemeinen Vergeßlichkeit anheimzufallen. Wäre da nicht etwas Rätselhaftes geschehen; hätte es nicht während des gesamten Turniers etwas zu sehen gegeben wie - paradox gesprochen - den blinden Flecken aller Turniere: etwas Abwesendes, das niemand vermißt, obwohl es konstitutiv für alles ist, was auf dem Feld passiert; etwas Unsichtbares, das sich diesmal zeigte, vielleicht zum ersten Mal, im Spiel einer bestimmten Mannschaft, der einzigen, die, obwohl bis zuletzt dabei, nicht wirklich eine Mannschaft war und nicht wirklich mitspielte bei dieser WM. Die Rede ist natürlich von den Italienern - und von den Frauen.

I GEPLÄNKEL

Wie sie es schafften, bis ins Finale zu kommen, weiß niemand so recht zu sagen. Von Glück war die Rede, dem Inbegriff von Ungerechtigkeit. Schließlich hatten sich alle anderen - mit Ausnahme der Deutschen - abgerackert, hatten nicht Mühen noch Risiken gescheut, hatten - das Ziel immer fest im Visier - ihr Letztes gegeben in allseits umjubelten Auftritten - und waren vorzeitig ausgeschieden; während sie, die Azzurri, nur das Nötigste taten, mit Potentialen eher als mit realem Einsatz jonglierten und das nicht etwa genial oder souverän, sondern als ob sie gar nicht richtig bei der Sache wären - und ins Finale gelangten. Von Anfang an war nicht klar, was die Italiener bei der WM wollten, ja ob sie überhaupt wollten. Und wo kein Wille, kein Weg, sollte man, gut abendländisch meinen. Doch die Italiener machten sehr wohl ihren Weg; was sie nicht erkennen ließen, war das Ziel. Unter Turnierbedingungen heißt das, es ging ihnen nicht um den Sieg. Worum aber sonst?

Sichtbar war: sie mieden harte Zweikämpfe, vertrödelten die meiste Zeit mit Kurzpässen im Mittelfeld, kickten unschlüssig hin und her, ließen meistens bis zuletzt offen, ob sie überhaupt darauf hinaus waren, Tore zu schießen, oder ob es ihnen genügen würde, den gegnerischen Impetus versanden zu lassen. Das Unentschieden - für Puristen die Todsünde, die den Zuschauer um das Wechselbad der Affekte betrügt: bei den Italienern offenbarte es sich lange vor dem Endergebnis als retardierendes Prinzip einer minimalistischen, spannungsneutralisierenden Dramaturgie. In der kursierenden Fachsprache ausgedrückt war ihr Spiel ebenso ineffizient wie bar jedes "Unterhaltungswerts". Aber auch das nicht durchgehend; zur versäumten Zielstrebigkeit gehört, daß diese ihrerseits nicht wiederum Ziel einer Strategie sein kann. Also gab es immer wieder kurze, aber folgenreiche Ausflüge zum schlechter bewachten Heiligtum der Konkurrenz, am längsten in der ersten Halbzeit gegen Bulgarien. Inkonsequent blieben sie aber auch hier, indem sie - wie zuvor gegen Spanien - nach der frühen Führung verzichteten, die vorübergehende Verwirrung ihrer Widersacher zum Ausbau ihres Vorsprungs zu nutzen.

Auffällig war: keinem der squadra, nicht einmal dem emsigen Signori war je dieser fanatische Ausdruck anzumerken, um jeden Preis gewinnen zu wollen oder gar zu müssen, dieses finster zu allem Entschlossene, dieses so tun, als ob es um Leben und Tod ging, das die Physiognomien aller anderen Streiter um Ruhm und Prämien (die Deutschen wiederum ausgenommen) verzerrte und sie zu athletischen Höchstleistungen anspornte. Mexikanische Desperados, bulgarische Legionäre, norwegische Hünen, nigerianische Preisboxer, der spanische Furor -: sie alle wüteten vergeblich, verfingen sich mit ihren stromlinienförmigen Attacken im Netz der italienischen Abwehr, einschließlich der Brasilianer, die sich nicht rühmen können, im Rahmen und mit den Mitteln einer regulären Begegnung gewonnen zu haben. Die Italiener hingegen, die en passant die Metapher des elektronischen Zeitalters auf ihre Fußballtauglichkeit testeten, schienen sich einen ungeheuren Luxus zu leisten: sie spielten, als ob es um "nichts" ging.

Das war, nach einhelliger Meinung der Kommentatoren, enttäuschend. Wieder einmal hatte die berüchtigte italienische Unzuverlässigkeit alle Prognosen Lügen gestraft: erst enttäuschten sie als Favoriten, dann als Versager, mit denen niemand mehr gerechnet hatte, und durchgängig als die Phalanx mit der niedrigsten Angriffsquote. Daran vermochten weder astronomische Preisgelder noch die notorische, von über einer Milliarde Augenpaaren gekitzelte Eitelkeit und schon gar nicht eine Nation in Erwartung der höchsten symbolischen Aufwertung, die es in Friedenszeiten zu erringen gibt, etwas zu ändern. Die Italiener sickerten eher - wie durch undichte Stellen in den Formationen ihrer Kontrahenten - von Runde zu Runde weiter, als daß sie die Pyramide der Erwählten hinaufstürmten. Saturiertheit, narzißtisches Schonprogramm, lähmende Taktik, Fehlbesetzungen, Müdigkeit zuletzt - mag sein. Dennoch wird jeder das Rationalisierende solch wohlfeiler Erklärungen spüren. Das schöne Wort "Ent-täuschung" trifft es, wörtlich genommen, schon etwas genauer: da wurde dem Fußball sein täuschender Charakter genommen: die Illusion, agonale Spiele seien dem Ernst des Lebens und seiner Mangelökonomie entrückte, heidnische Feste; geregelte und doch unkontrollierte Verschwendung von Energien und Affekten. Als ob Wettkämpfe nicht gemäß denselben Maximen der Selbstbehauptung organisiert wären, die auch sonst jede spontane Äußerung an die Kandarre von Leistungszwang und Erfolgsdruck, Konkurrenzdenken und finalisiertem Handeln nehmen. Polemisch gesprochen: wer gewinnen will, der spielt nicht, der macht Ernst, und das heißt im Fußball: Knochenarbeit. Und in dem Maße, indem die Individualisten aus Südeuropa - die partout keinen homogenen Verband abgeben mochten - sich nicht um ihre professionellen Direktiven scherten, begingen sie Verrat am Ritual des Kräftemessens ebenso wie an der Lust des Zuschauers an der schieren, wenngleich schematisch vereinfachten Verdopplung seiner täglichen Abrichtungen. Wenn etwas auf den schweißdurchtränkten Ackern dieser WM luxurierte, dann einzig die fehlende Zielstrebigkeit der Italiener.

Ihre Heterodoxie verdichtete sich in einer Gestalt, die zum - zugegebenermaßen unfreiwilligen - Anti-Helden des Turniers werden sollte: Roberto Baggio. Das italienische Fußballwunder wirkte vom ersten Spiel an wie die Inkarnation der Unschlüssigkeit, irrte auf dem Feld herum, als suchte er seine Rolle in einem Stück Pirandellos, eine Antwort auf die Frage: "was soll ich hier?". In depressiver Abwehr der maßlosen, auf ihn gerichteten Erwartungen drückte er sich geschickt um den "Ballbesitz", machte sich unscheinbar, bis alle ihn vergessen hatten, um plötzlich, kurz vor Schluß, die entscheidenden Tore zu schießen (in der 89sten Minute gegen Nigeria, in der 85sten gegen Spanien). Der Mann, dem es offensichtlich ernst ist mit seinem Bekenntnis zum Buddhismus, der sein Starimage konterkarierte und den Fans hartnäckig jede Show verweigerte: er mußte versagen, als alle Augen beim finalen Elfmeterschießen auf ihn gerichtet waren: als er wollte, wollen mußte, konnte er nicht - und tat doch, ein letztes Mal, wiederum unbeabsichtigt, das einzig Richtige, indem er Italien und seiner maroden politischen Kultur die kalte Dusche einer Endspielniederlage bescherte. Sein Fehltritt hat gute Aussichten, als Startschuß zum Konkurs der Berlusconi GmbH, die, wir wollen das nicht vergessen, mit dem Schlachtruf der tifosi zur Urne blies, in die Geschichte einzugehen. Hätten die Italiener somit auch den Fußball - wie zuvor schon die Demokratie und früher noch den Krieg - durch "Ineffizienz" und "Inkonsequenz" ad absurdum geführt? Es ist nicht müßig, auf einen italienischen Sonderweg zu insistieren, wenn man bedenkt, daß hier die höchsten Symbolträger eines Volkes (und nur sie werden als Elite anerkannt) ihm nichts von dem geliefert haben, wovon sich im herkömmlichen Verständnis Nationalgefühle nähren: sie demonstrierten weder Stärke noch Überlegenheit, zeigten weder Opferbereitschaft noch Idealismus, keinen Mannschaftsgeist und keine Kampfmoral außer, und darauf ist zurückzukommen, in der Defensive. Und dennoch - oder gerade deshalb? - wurden sie gefeiert, erkannten sich die Fans mit ihren Lastern und Tugenden im Dargebotenen wieder.

II ABSEITSFALLE

Man wird einwenden, daß es nun einmal zum Wesen des Agons gehört, daß es Gewinner und Verlierer gibt, und daß nur die Aussicht auf einen Sieg die Akteure hinreichend anstiftet; daß ohne die Zuspitzung auf den Treffer nicht einmal eine sinnvolle Choreographie des Geschehens denkbar wäre; und daß dem Zufall bei noch so unerschütterlichem Willen ohnehin - dank menschlicher Unzulänglichkeiten - genug Raum bleibt. Und dennoch: wenn man dasselbe System, nach welchem Existenzen verplant, Karrieren absolviert, Produkte erzeugt, Leistungen erbracht oder Kriege geführt werden, dieselbe operative Einheit von Finalität, Konkurrenz und Selektion in nahezu allen Spielen der Gattung wiederfindet, so wird man den Verdacht nicht los, daß diese der Hordenmentalität des Paläolithikums noch kaum entwachsen ist.

Soviel ist nämlich wahr am Ressentiment von den verwöhnten Gladiatoren: das teleologische Dispositiv, das im Dienste der Selbsterhaltung (Nahrung-, Schutz- und Partnersuche) steht, degeneriert zu den mittlerweile immer häufiger unterforderten Stammhirnfunktionen. Soweit die Kulturkritik diesen neuroanthropologischen Leerlauf des einstigen Jägerprogramms überhaupt zur Kenntnis genommen hat, ist sie angesichts der drohenden Entkoppelung von Intention und Identität prompt zur Theologie regrediert. Unablässig klagt sie fehlende Zielvorgaben und Sinnangebote gegen Gewaltfaszination und Erlebnishunger ein und ruft nach "mentalen" Vollbeschäftigungsprogrammen für das vielbeschworene Vakuum, anstatt einmal Urlaub zu nehmen vom Sekuritätsdenken und sich auf die neuen Perspektiven einzulassen, die der Wandel eröffnet. Zum Beispiel jene, die man mit einem Synkretismus Peter Sloterdjiks "eurotaoistisch" nennen könnte, und die er in Weltfremdheit[1] unter dem Begriff der "Inexistenz" als eines vom Präsenzzwang erlösten, weltabgewandten Daseinsmodus, erneut zur Diskussion gestellt hat. Das Subjekt, dessen Möglichkeit sich hier abzeichnet, wäre eines, das nicht unablässig etwas machen muß, um den Kontakt zum Sein nicht zu verlieren; dessen Freiheit nicht davon abhinge, in jeder Tätigkeit die Einheit von Wille und Handlung zu beglaubigen; dessen Tun also immer zugleich ein Geschehenlassen wäre und seinen Sinn oder seine Transzendenz aus eben der Ermöglichung, daß "es geschieht", empfinge. Im ziel- und abschlußbesessenen Abendland mag sich dergleichen vorerst allenfalls akzidentell ereignen und als Betriebsstörung oder Lapsus registriert werden. Noch immer erkennen die Individuen dieses Kulturkreises nur intentionalen Akten die Evidenz identitätsstiftender Erfahrungen zu, erschließt sich ihnen die Welt vornehmlich im Modus eines jenachdem pragmatischen oder utilitaristischen, ethischen, theoretischen, narrativen, diskursiven, usw. Finalismus. Hochkulturen im Banne des Monotheismus lassen sich geradezu definieren dadurch, daß sie die unter städtisch-seßhaften Bedingungen unausgelastete Suchautomatik des Selbsterhaltungsinstinkts zum Instrument der Weltbemächtigung generalisiert haben. Aber seine triebökonomische Verankerung macht es im Zeitalter seiner schwindenden Relevanz anfällig für Anfechtungen prinzipieller Natur.

Auf den Römerberggesprächen 1991 ("Die Sache mit der Zeit") erläuterte Johann Galtung anhand der Ergebnisse von Feldforschungen bei philippinischen Prostituierten den Unterschied zwischen okzidentaler und fernöstlicher Sexualität: "Chinesische Kunden sind bei den Damen denkbar unbeliebt, sie kommen beim Coitus nicht zur Sache, fangen an, ziehen sich zurück, fangen wieder an, ziehen sich wieder zurück ... Bei den Amerikanern hingegen dauert alles insgesamt höchstens drei Minuten, nicht ganz so schnell tun es die Deutschen und die Skandinavier, wohingegen die Italiener so etwas wie einen Übergang zwischen abendländischem Ex-und-hopp- und orientalischem Endloszyklus praktizieren."[2]

Kein Zweifel, die Angst vor dem angeblichen Nichts des Nicht-Endes, dem horror vacui angesichts einer fehlenden Zielvorstellung, der Wille zum Finale - von der Apokalyptik bis zum Leistungssport - ist eine triebdynamische Obsession des männlichen Sexus (bis hin zum postkoitalen Nirwana, das Frauen ebenfalls unbekannt ist). Sie alimentiert die Mortifikationsstrategien des kriegerischen Subjekts: Perfektionszwang, Erledigungsbedürfnis, die ewige Wiederkehr des 'ein für allemal', das tägliche Endlösungsdenken der praktischen und das säkulare Endspieldenken der metaphysischen Vernunft. Angesichts des bekanntermaßen schwach ausgeprägten südländischen Sinns für Gegenwartsaufschub im Dienste vermeintlich höherer Werte und Ideale verwundert Galtungs Befund, dem er sogleich einen analogen betreffend den Unterschied der Eßgewohnheiten folgen ließ, kaum. Und so mag die kleine Spielanalyse weitere Spurenelemente (und braucht es mehr?) taoistischer Lebensformen in Europa nachge-wiesen haben. Immerhin waren die Italiener nicht die einzigen auf der WM, denen man ein gestörtes Verhältnis zu nationaler Ehre und individuellem Ruhm, zu berufsmäßigen Plichten und dem überbezahlten Auftrag nachsagte. Auch die Deutschen, die ja zweifellos wollten, und wohl auch gekonnt hätten, verharrten im Konjunktiv (litten allerdings arg darunter und wurden entsprechend vom Gang der Ereignisse dafür bestraft) -: angesichts ihres gefürchteten "Kampfgeists" sicher mehr als das Mismanagement eines uninspirierten Trainers. Hier geht es um Irritationen, die an exponierter Stelle den Beginn einer allgemeinen, noch weitgehend verdeckten Umstrukturierung des maskulinen Agonismus signalisieren. Wenn diese Vermutung stimmt, muß die Hoffnung naiv erscheinen, mit wertekonservativen Wiederaufrüstungskonzepten (in Sachen Arbeitsethos, Genuß- bzw. Verzichtsverhalten, Geschlechterrollen, etc.) das verlorene Terrain zurückzuerobern. Noch weniger werden die Turbulenzen der neuen Vermischungsprozesse mit einer totalitären Einengung rechtsfreier Räume - wie vom neopuritanischen Sittenkodex feministischer Korrektheit indiziert -, beherrschbar. Im Gegenteil: wie da aus der paranoiden Schmollecke mit informellen bis staatlichen Reglementierungen geflirtet wird, hat alle Chancen, die Rechtsmündigkeit der Frauen insgesamt zu diskreditieren.

III SEITENWECHSEL

Alles kompliziert sich durch das Auftauchen der gegnerischen Mannschaft. Mit einigen Modifikationen können wir Sartres Spruch eine Runde weiter schieben. Es ist ja noch nicht allzulange her, daß sie auftauchte, man weiß auch nicht genau wie sie spielt, noch weniger, worum sie spielt (sie weiß es selber noch nicht), aber fest steht: sie möchte eine Mannschaft sein. Und weil das ihre sichere Niederlage (und das Ende des Spiels) bedeuten würde, muß man sie daran hindern. So haben sich die Verhältnisse enorm kompliziert.

Einfach genug waren sie ja bisher: die eine Hälfte war auf dem Feld, sichtbar, die andere nicht. Doch jeder ahnte: sie ist da; sie spielt mit. Und schwieg (auch Huizinga, auch Callois): das war, das ist Teil des Spiels. Entweder deckt sie den Raum, wo sie schon durch ihr bloßes, vielleicht nur vermutetes Anwesendsein Eitelkeit und Imponiergehabe der Protagonisten aufstachelt; oder sie deckt den Mann, vor und nach dem Gefecht, emotional und physisch: ohne ihren selbstlosen Einsatz wüßten wir nicht, was ein ödipaler Held ist. Und da sind noch die unerläßlichen Zielscheiben für die Schützen, diese gewaltigen, eifersüchtig gehüteten Schöße mit ihrer magnetischen Anziehungskraft an den jeweiligen Polen des Einsatzgebietes. Und die orgiastischen Konvulsionen jedesmal, wenn einer trifft.

Urform männlicher Rivalität und soziodynamischer Kitt aller patriarchalen Kulturen - mythologisch mit Ödipus (für das Individuum) und dem trojanischen Krieg (für ethnisch-religiöse Kollektive) kodifiziert -, ist der Kampf um die Frau. Die Inszenierung des Agons auf den Schauplätzen - je nach historischer Opportunität - friedlicher oder feindseliger Auseinandersetzungen der Männer untereinander ist nämlich selbst das Resultat einer gesellschaftlichen Stillstellung der primäragonalen Geschlechterspannung.[3] Strikte (politische, juridische, soziale) Trennung der jeweiligen Hoheitsgebiete - hier das umsichkreisende Muttertier, Kind und Käfig im versorgenden Würgegriff, dort das unruhig zur Welteroberung ausschweifende Männchen - garantierte lange Zeit die Entsorgung ambivalenter Affekte in der privaten und den zumeist zerstörerischen Einsatz familiär ungebundener Energien in der öffentlichen Sphäre. Ganz gleich ob nationalistisch oder territorial, religiös oder ethnisch begründet: Kriegslüsternheit diente vor allem (und hierzu liefert der Islam noch täglichen Anschauungsunterricht) dem Erhalt der von Anfang an vom Zerfall bedrohten, weil lediglich auf biologische Funktionalität und gegenseitige Abhängigkeit gegründeten Geschlechterordnung. Man hüte sich daher vor der Suggestivität von Opferdiskursen. Wenn männliche Präpotenz seit jeher etwas unter Beweis stellt, dann die Ungewißheit dieses Geschlechts über eine konstruktive Gestaltung seines Gattungsauftrags - und ex negativo die perennierende Macht des Gluckenprinzips als dessen Gegenpol und heimliches Gravitationszentrum. Warum vom Nest kaum je Versuche ausgingen, das mörderische Treiben an der Peripherie zu entschärfen, läßt sich nur aus solcher Komplementarität begreifen. Für die Ontologie des Grauens sind beide Geschlechter in Haft zu nehmen - oder keines.

Seitdem Frauen immer eigenmächtiger aus dem Beute- bzw. Pokalstatus heraustreten und ihre assistenziellen Dienstleistungen aufkündigen, verlagert sich die agonale Spannung zunehmend in das Verhältnis zwischen den Geschlechtern, mit weitreichenden, z.T. sogar paradoxen Konsequenzen für die Kompetitionskultur insgesamt. Teils schwinden den Männern die Energien und Motivationen für ihre Kampfrituale, teils werden sie ihnen durch die Verschiebung der Fronten absorbiert. Lockert sich die Verdrängung des Weiblichen in Individuen und Institutionen, sind die homoerotischen Impulse nicht länger gezwungen, sich in Rivalitätsszenarien aggressiven Ausdruck zu verschaffen; zugleich nimmt für die Akteure der Druck ab, sich und anderen ihre Potenz durch "herausragende" Leistungen, sog. Heldentaten etc. beweisen zu müssen. Fernziele, Ideale, selbst Mutter Nation werden es schwer haben, Opfer- oder auch nur Einsatzbereitschaft zu mobilisieren. Die Wege von der autohypnotischen Begeisterung für eine Aufgabe zu ihrer tatsächlichen Umsetzung werden immer länger und zweifelsanfälliger. Mit der Eitelkeit zieht sich auch der Größenwahn ins Imaginäre zurück. Der Kampfgeist wechselt mit dem Geschlecht seinen Aggregatzustand: als weiblicher kondensiert er - im Einklang mit NATO-Statuten - zur Defensive. Chinesisches Schattenboxen, italienisches Schattenkicken.

Noch mangelt es Männern nicht an ambivalenzfreien Revieren, in denen sie entweder einzeln oder zur Horde versammelt Feinden, Gegnern, irgendeinem Gral oder schlicht der Normerfüllung nachjagen können. Und solange mit den eigenen weiblichen Anteilen auch die homosexuellen verdrängt werden, dürften sich schwerlich andere öffentlich lizensierte Austragungsformen dafür finden. Zur Disposition stehen nur die Formen; die schiere Notwendigkeit, sensomotorische, nach Aktion drängende Überschüsse zu verausgaben und so Aggressionspotentiale zu erschöpfen, wird - beileibe nicht mehr auf die Pubertät beschränkt - bei der unaufhaltsamen Zerebralisierung der Arbeitsprozesse und proportional dazu wachsender Monitorsucht eher an Dramatik gewinnen. Wer gegen den perspektivischen Sog virtueller Realitäten - die neueste Abseitsfalle der teleologischen Automatik - Eigensinn und Widerstand, Schwere und Extase des Körpers spüren will, hat heute bereits neben Tekkno oder afroamerikanischen Tanzrhythmen nur noch dessen sportliche Betätigung zur Auswahl.

Auf der anderen Seite infiltrieren immer mehr Geltungsansprüche von Frauen den sozialen Raum und gefährden die Abgeschlossenheit der letzten männerbündischen Reservate: sei es von außen, durch direkte Infragestellungen, bzw (und leider häufiger) durch Partizipationswünsche; sei es, wirksamer, von innen durch das bröckelnde Selbstverständnis ihrer Mitglieder. Nicht wenige flüchten vor den aufbrechenden Konflikten auf die nächste Eskalationsstufe: hier wartet ein autistisch gekapptes Agon mit lebensgefährlichen Erlebnistrips, bei denen es keine realen Gegenspieler mehr gibt außer der Angst vor dem Tod und keinen Preis außer Adrenalinschüben und die ihnen korrespondierenden Größenphantasien. Die wenigsten allerdings wenden die mißlingende Beherrschung des Weiblichen in asketische Selbstbeherrschung; viel eher führt der Weg vom Stammtisch nach Thailand, vom Herrenabend in den Pornoschuppen. Und selbst die zahlreicher werdenden Männer, die dem Auflösungsdruck, und sei es unter experimentellen Vorbehalten, nachgeben, ziehen aus neugewonnenen Einstellungen nicht unbedingt Konsequenzen für die Praxis in den Institutionen. Vielmehr verbarrikadieren sie sich dort nach wie vor gegen die legitimen, aber noch nicht verhandlungsfähigen Ansprüche der Frauen. Nicht verhandlungsfähig, weil diese nirgends erkennen lassen, was sie im Gegenzug anzubieten bereit sind. Das bereits Vorhandene noch einmal, nur statistisch besser durchmischt, ist weder programmatisch wünschenswert, noch für die Betroffenen, deren Daseinsberechtigung kompensationslos liquidiert werden soll, annehmbar. Skandalöser jedoch ist, worüber nicht gesprochen wird: daß Frauen sich Bewegungsfreiheiten der Männer erkämpfen, durch die sie von diesen unabhängiger werden, ohne wiederum an der Lockerung der psychosexuellen Fesseln zu arbeiten, durch die sie das "starke Geschlecht" seit frühester Kindheit an sich binden. Darin aber bahnt sich eine Destabilisierung des alten Gleichgewichts der Unterdrückung an, die das zivilisatorische Minimum, das dieses garantierte, im Kern bedroht.

IV KONTER, VERWARNUNG, PFIFFE

Aufgabe der gegnerischen Mannschaft ist es nun einmal, alle Visionen, auch, ja gerade die schönsten, zunichte zu machen. Resigniert müssen wir feststellen: nichts blockiert eine, paradox gesprochen, differentielle Androgynisierung der Geschlechterverhältnisse (im Sinne von Deregulierung, nicht Angleichung) nachhaltiger als die feministische Universalisierung des Agons selbst. Als wenn sie die Verflüssigung der Rollenantagonismen nicht ertrügen, konzentrieren Frauen ihre ideologische Offensive auf sozialpolitischem Terrain, wo sie am ehesten von ihrem Geschlecht, gegen dessen Diskriminierung sie doch lauthals protestieren, abstrahieren können. Daß der Konfliktstoff inflationär aufgebläht wird, kommt aber letztlich seiner Veräußerlichung und damit seiner gesellschaftlichen Domestizierung gleich. Im Klartext: Je mehr weltliche Bastionen patriarchaler Herrschaft (von der C4-Professur bis zur Bundeswehr, vom body-guard bis zur Unternehmensberatung) "geknackt" werden, desto mehr fühlt sich "frau" der Notwendigkeit enthoben, das Männliche in sich zuzulassen. Die Fronten, die sie "draußen" auf den Verteilungsmärkten von Chancen, Rechten und Positionen aufreißt, machen sie unempfindlich für die inwendigen Verwerfungen ihrer geschlechtlichen Doppelnatur. Anders wäre nicht zu begreifen, warum die Mobilisierung ihrer Energien sich auf die Durchsetzung sozialer, beruflicher und juridischer Ansprüche beschränkt, sie es ansonsten aber vorzieht, weiterhin das traditionelle Privileg der Gesuchten, Begehrten, Umworbenen zu genießen, die ihren Wert künstlich durch Verknappung hochschraubt, um oft genug erst als Prämie für Wohlverhalten (Ausdauer, Einfallsreichtum der Werbung etc.) in eine Liason oder auch nur Kohabitation einzuwilligen. Diese Rolle ist offensichtlich so hochgradig narzißtisch besetzt, daß sie alle Autonomievorsätze unbeschädigt, vermutlich sogar unbemerkt passieren konnte. Nichts aber zwingt Männer so sehr zur Regression auf ihre konditionierten Reflexe als diese Weigerung der Frauen, ihrem neuen Tatendrang auch in eroticis Ausdruck zu verleihen und die überaus bequeme Passivität ihrer imaginären Objektstarre zu verlassen.

Während die real existierende Weiblichkeit uns tagaus tagein wissen läßt, was sie will, harren wir vergeblich einer Antwort auf die - nicht nur Freud enervierende - Frage, was denn das Weib will. Aber vielleicht gibt es darauf keine Antwort, kann es keine geben, weil, wie Lacan sagt, das "Genießen der Frau" sich jeder Bezeichnung entzieht und nur in diesem Schweigen seine Differenz zum männlich konnotierten Begehren bewahren kann? Wenn das stimmt, hätte sich also die zeitgenössiche Frau in ein mystisch genießendes Sexualwesen und eine profan (und gierig) alle männlichen Errungenschaften "phallisch" begehrende Protestperson gespalten? Müßten wir (das sind alle, auf die diese Beschreibung nicht zutrifft) nur noch darauf warten, daß sie an dieser Schizonomie irrewird und sich eines besseren besinnt? Oder sollten wir umgekehrt darauf hoffen, daß auch bei ihr Macht und Anerkennung irgendwann zu einer ausgleichenden Anhebung des Testosteronspiegels führen werden?

Mechanische Modelle mögen nun zwar der Finesse psychoanalytischer Spekulationen entbehren, eine plastische Belebung unseres verdüsterten Erwartungshorizonts wird ihnen indes niemand absprechen. Das gilt besonders für die Frage nach der sozialen Beeinflußbarkeit naturgeschichtlich gewachsener Ausstattungen, die der vielleicht hartnäckigste Mythos der Aufklärung einst zur grenzenlosen Manipulation freigegeben hatte. Gerade, weil das phylogenetische Erbe sich nicht sozial indifferent entfaltet, so die Gegenthese, läßt sich darauf einwirken; gerade, weil umgekehrt kulturelle Codierungen die Individuen mit der Unausweichlichkeit und der Gewalt von Stoffwechselprozessen konditionieren, macht sich die gängige Aufregung über biologisierende Metaphern blind für den heuristischen Wert solcher Als-ob-Konstruktionen. Am (vorerst noch imaginären) Indifferenzpunkt von Natur- und Kulturgeschichte lassen sich aktuelle Defizite sehr wohl auch als mittlerweile dysfunktionale Mechanismen der Verhaltenssteuerung entziffern. So machte sich das feminine Zielsteuerungssystem aufgrund seiner konservativen Programmierung im Laufe der Zivilisationsgeschichte, die als eine der territorialen und technischen Expansionen und ihrer diskursiven Besetzungen geschrieben wurde, kaum bemerkbar: es hatte primär für den sicheren Aufwuchs der Nachkommen zu sorgen. Es überrascht daher nicht, wenn die Neurophysiologie beim Gehirn des Mannes die bessere Raumorientierungs-, bei dem der Frau die ausgeprägtere Sprachkompetenz antrifft. Es sollte aber auch nicht überraschen, daß sich vor diesem Hintergrund zwingend eine strukturelle Komplizenschaft des Weibchens an der zielfixierten, destruktiven Umtriebigkeit ihres Antipoden ergibt. Die abwartende Untätigkeit der einen, die sich damit begnügt, sich sehen zu lassen, kurbelt automatisch den habituellen Zielsuchlauf des anderen an. Den Blick als Waffe einzusetzen, den anderen als Beute oder als etwas zu Eroberndem ins Visier zu nehmen, zu fixieren, zu verfolgen: was Männer an frühgeschichtlichen Universalien vor Leinwand und Bildschirm aktualisieren[4], fordern ihnen ernsthaft nur noch die Frauen ab (und der Autoverkehr). Das preziöse weibliche Spiel von Erstarrung zum (Fern-)Bild und sich-Entziehen, von Hinhalten und Gewähren perpetuiert nicht nur die eherne Herr-und-Knecht-Dialektik; verhängnisvoller - besonders im Zeitalter televisuell zelebrierter Finalität - scheint mir die reservatio sexualis an der Provozierung eines taktischen, latent sadistischen, auf Beherrschung und Überwältigung setzenden Typs von Objektbezug mitzuwirken.

Auf ganzer Front sollen die Männer zurückweichen, angestammte Positionen räumen, endlich jene zivilen weiblichen Tugenden einüben, die Friedenszeiten angemessen sind; sieht man aber von einer halbherzigen Einladung zum Windelnwechseln ab, warten sie vergeblich auf Angebote, die sie zu den mühsamen Korrekturen stereotyper, z.T. evolutionär verfestigter Reaktionsmuster ermutigten. Im Gegenteil: sobald sich die Geschlechter privat begegnen, ja damit es überhaupt zu einer solchen Begegnung kommt,setzen Frauen ausgerechnet auf die sonst geschmähte Angriffsfreude ihres Gegenübers, anstatt ihr durch eigene Initiative zuvorzukommen; setzen mit ungebrochen steinzeitlichem Instinkt auf überragende Statur und fürsorgliche Einfalt - ebenfalls Quellen angeblich verhaßter männlicher Dominanz. Die postarchaische Frau, so deshalb eine dritte These, scheint ihr emanzipatorisches Selbstbewußtsein ausschließlich einem Phantombild ihrer selbst als purem Geistwesen nachzuzeichnen. Weder hat sie sich bislang mit den männlichen Abgründen ihrer Sexualität, noch mit einer Wunschprojektion derselben identifiziert. Das macht es ihr wiederum leicht, an der rätselhaften, durch keine Endokrinologie einsichtig zu machenden Diskrepanz zwischen dem ostentativen maskulinen Verlangen und ihrer ebenso vorschnell bekundeten Lustlosigkeit nicht nur nicht zu leiden, sondern dieses mit empörten Gestus sogar als pervers zu denunzieren. Als ob nicht jede Suche mangels Halt oder Widerstand zur Sucht prädisponierte, jede Flucht ihren eigenen teleologischen Sog miterzeugte.

Spätestens hier schließt sich der Kreis zum thrill, der, ich deutete es bereits an, selbstverständlich auch vor dem Hintergrund der sich verschiebenden Spannungsmomente im Agon der Geschlechter erörtert werden muß. Das Phänomen ist so neu nicht, wird aber in einer Kultur des mangelnden Ernstfalles und selten gewordener Bewährungsproben auffällig, weil es offenbar als Bedürfnis fortdauert. Der ihm zugrundeliegende Selbsterhaltungsmechanismus verkehrt sich offensichtlich bei entsprechendem Leerlauf ins Gegenteil, in todessüchtigem Finalismus: "Der Mensch will lieber noch das Nichts wollen, als nicht wollen..." - auf diese Formel hatte schon Nietzsche den anhaltend apokalyptischen Tonus des nachidealistischen Subjekts zugespitzt[5].

Aus agonistischer Perspektive könnte die Konstellation widersprüchlicher nicht sein: wofür brauchen Männer noch Angstlust stimulierende Medien oder gar reale Gefahrensituationen, wo doch bereits die Annäherung an das andere Geschlecht (zumal in Breitengraden, wo von diesem in der Regel keine annäherungsermutigenden Signale ausgehen) mittlerweile zur riskantesten Erfahrung der Welt geworden ist? Und umgekehrt: glauben Frauen wirklich, daß Männern die Lust an ihren destruktiven Räuschen vergeht, wenn ihnen die Folgen ihres Begehrens zum Alptraum werden? Die Antwort auf die erste Frage liegt auf der Hand: die Begegnung mit dem anderen Geschlecht ist entweder kein thrill mehr wert; oder sie findet - mangels Anziehungskräften - überhaupt nicht mehr statt. Was die geschlechtslos emanzipierte Frau ihrem Gegenspieler anbietet, ist gleichsam ein doppeltes double bind, welches das Agon zugleich überspannt und unerfüllt läßt: einerseits verflüssigt sie mit steigender gesellschaftlicher Bedeutung und Selbstachtung die althergebrachten Imagines, andrerseits hält sie an der Strategie der libidinösen Blickfalle fest. Dies aber wiederum unter dem Vorbehalt, daß es sich nur um das "Äußere" handele, daß man sie doch bitteschön als "Persönlichkeit", und das heißt für sie: als geschwätzige Geist-Seele-Substanz, erkennen und anerkennen solle. "Menschlich" habe man sich näherzukommen, das allein zähle. Der Schein? Die Inszenierung? Nichts als Pforten zum "Eigentlichen". Ende des Spiels, Ende der Verführung. Beginn des freudlosen Zeitvertreibs vor allem deutscher Intimität, der "Beziehungsarbeit".[6] Darauf kann der verunsicherte Mann nur mit isomorpher Geschlechtsblindheit reagieren. Wenn der Reiz der imaginierten mit den Ansprüchen der realen Frau kollidiert, wenn die mythische Einheit von Göttin und Tier von den profanen Standards einer verständnisheischenden Innerlichkeit entzaubert wird, erlischt jede auf Andersheit oder Differenz gegründete Attraktivität. Und eine andere ist nicht in Sicht.

Während Erotomanen die agonale Spannung in perversen oder exotischen Ritualen nachrüsten, finden Routiniers die extremen Reize längst jenseits sexueller Abenteuer. Ich meine hiermit nicht professionelle Casanovas, sondern alle, denen die fragwürdigen Segnungen der Enttabuisierung zuteil wurden. Insbesondere Jugendliche suchen verzweifelt nach alternativen Initiationsmächten fürs Erwachsenwerden und kommen zwangsläufig von Horrorvideos über bungee bis zu Nebelrasen oder free-climbing, schlimmstenfalls zu crack und Randale. Zwangsläufig deshalb, weil neben den sexuellen auch alle anderen Schwellenerfahrungen (etwa in Schule oder Beruf) dank der allgemeinen Routinisierung des Sozialverhaltens (coolness, frühreife Abgeklärtheit, Stil- und Formlosigkeit des Umgangs) jeder grenzüberschreitenden Intensität verlustig gegangen sind. Das muß ausdrücklich gegen eine sinn- und zieltherapeutisch argumentierende, letzlich theologisierende Kulturkritik geltend gemacht werden. Was in allen Risikospielen gesucht wird, ist nicht der Sinn einer ungewissen Zukunft, sondern die Prüfung der eigenen Möglichkeiten, die Herausforderung, die wenigstens einige Augenblicke lang den Kokon der virtuell anästhesierten Gegenwart zerreißt. Was sich in ihnen ausagiert, kommt aus dem limbischen System und nicht aus verwilderten, ehemals christlichen Kolonien des Neocortex.

Am pubertären Agonismus der Jungen hat sich also prinzipiell nichts geändert, außer daß es - nicht zuletzt aufgrund infantilisierender Konsum- und Bildungsanstalten - immer schwerer wird, ihm zu entwachsen, und daß er zum beliebten Regressionsziel älterer Jährgänge avanciert ist. Wenn also seine Exzesse zunächst Symptome einer im Wandel begriffenen Balancierung der Geschlechterspannung anzeigen, stellt sich die Frage: warum suchen oder brauchen Mädchen, bzw. Frauen den thrill nicht (ich vernachlässige einmal die verräterischen Mimikryeffekte ihres neuentdeckten Selbstverwirklichungstriebs)? Zuerst die einfache Antwort: konstitutionell, davon war bereits die Rede, reduziert die konservative Justierung des Selbsterhaltungsinteresses sämtliche Aktions- und Agressionsneigungen. Eine der maskulinen vergleichbare, hormonell induzierte Teleopathie ergibt sich erst aus dem Verzicht auf die Mutterschaft, weshalb sogar karrierebewußte Singles sich an diese - nicht nur wegen der heillosen Übervölkerung - problematisch gewordene Rolle klammern. Plausibel macht das biopsychologische Modell nebenbei, warum die Vergesellschaftungsprozesse bei Mädchen soviel undramatischer verlaufen: ihre Antriebe sind schlicht weniger form- bzw. disziplinierungsbedürftig, sie gefährden weder die Bestandserhaltung der Gattung noch die jeweilige Gesellschaftsordnung.

Und nun die schwierige Antwort, die, sagen wir, phänotypische. Gesichert ist hier nur eines: während sich die Modalitäten der Wahrnehmung des anderen Geschlechts und des Zugangs zu ihm (Hemmschwellen, Ängste, Initiationsrituale) für die Adoleszenten der letzten Generationen grundlegend geändert haben, muß für die Mädchen desselben Zeitraums ein Kontinuum geradezu archaischer Erziehungspraktiken konstatiert werden. Ich möchte sie das Komplott der bösen Mütter nennen (und als vierte Komponente in der Ätiologie weiblicher Passivität anführen). Was Mütter seit jeher ihren Töchtern auf dem sexuellen Lebensweg mitgeben, ist eine fatale Mischung aus Unwissen, realem oder geheucheltem Desinteresse und chronischem Mißtrauen gegen die angeblich immer nur das eine wollenden Männer. Also Denunziation der Lust und des Körpers an sich und Geschicklichkeit lediglich in der Kunst, nein zu sagen und sich so spät und so teuer wie nur irgend möglich zu verkaufen. Seit einem Vierteljahrhundert, also seitdem Grund zur Annahme besteht, leibliche Mütter könnten es an der nötigen Verve bei der Verhetzung ihrer Töchter fehlen lassen, sorgen die Propagandasektionen der selbsternannten Erynniensyndikate für eine flächendeckende Vergiftung der Triebschicksale. Mit freundlicher Unterstützung der amerikanischen Bilderindustrie.

Aus alledem folgt, daß Frauen zweitens deshalb kaum für die Reize der Angstlust anfällig sind, weil sie permanent Angst haben. Und zwar nicht obwohl, sondern weil sie wissen, wovor, dieses Wissen jedoch, weil lange vor jeder Erfahrung erworben, nur in der unbrauchbarsten Form, nämlich als atmosphärische Befangenheit oder als Vorurteil verfügbar haben. Die Unterscheidung zwischen konkreten, Furcht auslösenden Bedrohungen und diffusen, existentiellen oder psychogenen Ängsten greift bei ihnen nicht. Sie haben eine Deckadresse für das, wovor man sich im Leben überhaupt nur ängstigen kann: der Mann. Kein Wunder, daß agonale Konflikte unter solchen Voraussetzungen gar nicht anders als indirekt, auf dem Weg z.T. anonymer Delegation (ideologisch, institutionell, gerichtlich, etc.) ausgetragen werden. Die das Wovor jeder möglichen Ängstigung immer schon benannt und imaginär besetzt haben, werden apriori, auch wider die eigene Empirie, manichäisch Schuldzuweisungen und Selbstentlastungen verteilen; sie werden aber darüberhinaus - gemäß der Tragik sich selbst erfüllender Prophetien - in prekären Situationen unbewußt das designierte Opfer antizipieren und so das Unheil unweigerlich auf sich ziehen. Die boomenden Selbstverteidigungskurse sind unfreiwilliges Eingeständnis dieser Misere, nicht weniger als die dämonisierenden Verdachtskampagnen der Komitees für affektneutrale Kommunikation. Offenkundige gesellschaftliche Abrichtungen (beileibe nicht nur seitens der Mütter, aber die Väter saßen jetzt lange genug alleine auf der Anklagebank) sind jedoch kein Grund, die Kopfgeburt vom Zivilisationseinheitsmenschen, der sich erst sekundär als Geschlechtswesen zu begreifen habe, zu reanimieren. Denn auch Angstreflexe sind primär angeborene Verhaltenssteuerungen, deren in Jahrmillionen bewährte Logistik sich schwerlich allein aufgrund unterschiedlicher Sozialisationen so stark differenziert hätte.

Die naheliegende Vermutung lautet, daß der Selbsterhaltungsinstinkt der Mutter, der immer auch die Sorge um das Kind einbezieht, die prinzipielle Angst um den gefährdeten Nachwuchs mit der punktuellen Furcht vor aktuellen Gefährdungen kurzschließt. Dieses elementare Gefühl ist begründet, hat einen Gegenstand und kennt die Natur der Bedrohung. Darum ist die weibliche Angst vor dem Mann nicht (wie umgekehrt seine vor ihr) eine vor seinem Anderssein, sondern vor seiner physischen Überlegenheit und latenten Aggressivität. Nur deshalb konnte sie sich - als pure Defensivangst - derart paranoid substanzialisieren. Aber ist das der wahre Hinderungsgrund für eine Wahrnehmung des Mannes, die etwa seiner Wahrnehmung der Frau - als Objekt der Neugier oder des Begehrens - vergleichbar wäre? Oder ist das eine Projektion, mit welcher die Frau sich selbst und dem Mann gegenüber zu kaschieren sucht, daß ihr ein tiefes, biologisch gut fundiertes Harmoniebedürfnis grundsätzlich die Ausbildung eines Sensoriums für das Andere/den Anderen hemmt (und ihr so alle Kämpfe, auch die friedlichen, absurd erscheinen läßt)? Und daß sie deshalb weder Angst vor dem Unbekannten (dem Nichts, dem Abgrund, der Transzendenz), noch Lust darauf verspürt (vom reproduzierbaren kick bis zur Faszination fürs Erhabene)? Kurz: würde sie auf ihn zugehen - wie er seit jeher auf sie -, wenn sie keine Angst vor ihm hätte? Nichts weniger als die Kompatibilität der Geschlechter steht mit diesen Fragen auf dem Spiel.

V NACHSPIELE

Harte Zeiten kündigen sich an, Übergangszeiten. Fließende Grenzen, schwimmende Gewißheiten, weiche Konturen. Nachlassende Zielstrebigkeit. Den Kriegen gehen die Helden aus, den Spielen die Krieger. Wer den Helden spielen will, geht am besten nach Hollywood; aber auch dort gibt es immer weniger zu bestaunen, zu bewundern, zu verabscheuen. Die Krise des Willens und die der Spektakeln ist eine Energiekrise: die der knapper werdenden gemeinsamen Triebressourcen. Stars, Idole, Helden, charismatische Führer: lange genug haben sie gezehrt vom Ausschluß des Weiblichen aus der Organisation des öffentlichen Lebens. Haben mit der Zurschaustellung des verdrängten Elements fasziniert, haben das Sichtbare mit der Verführungsmacht der verborgenen Gegenspannung aufgeladen und es so ins Imaginäre potenziert. Und haben sich zugleich an sehr realen Kraftwerken in den Proszenien regeneriert, gelegentlich sich sogar ihre Auftritte coachen lassen. Jetzt hat das Matriarchat den Untergrund satt, die Brut wird vernachlässigt, die Wechselströme versiegen - und schon wimmeln die Bühnen von clerks und models, von Allerweltsvisagen und geklonten bodies. Vom trivialen Glanz der Sterne keine Spur mehr. Es ist die Zeit der Fords und Sampras, der Schiffers und Ciccones (vulgo: Madonna), die jetzt schon so digital abgemischt und virtuell animiert aussehen wie ihre Nachfolgemodelle demnächst. Der hysterischen Meute bleibt da nur noch das Lauern aufs Doppelleben, auf den Augenblick der Transfiguration, da die Idole wieder werden, was sie vor dem Bildersturm der Patriarchen einst waren: Monster. Daran sollt ihr sie erkennen. Maradonas Gorgonenfratze nach seinem ersten Tor: als wollte er seine Kritiker versteinern; O.J. Simpsons letztes Match: zwei durchgeschnittene Kehlen; Michael Jackson, der "Mutant"[7], der seine fans mit Unschuldsbeteuerungen vergrault - und dann doch zahlt. Da haben Skiläufer und Formel-1-Fahrer es einfacher: ihnen genügt ein winziger faux pas, eine Millisekunde Unaufmerksamkeit zur Selbstoffenbarung.

Agonie des Agonalen? Zweifellos läßt mit der Zielstrebigkeit auch der Sublimierungsdruck nach, die Kultur wird andere Wege der Freisetzung schöpferischer Kräfte suchen, möglicherweise sich auf eine längere Übergangsphase der "Barbarei" einrichten müssen. Bislang jedenfalls sind die Verluste zu verschmerzen, wenn sie - dank allgemeiner Zerfallsprozesse - überhaupt ins Gewicht fallen. Die Väter sind abwesender denn je, auch und gerade, wenn sie zuhause bleiben. Für Originalitätssucht gibt es weder in der Kunst noch anderswo Lorber zu ernten. Die Masse macht jeden Wettbewerb zur Lotterie, gekämpft wird allenfalls um Quotenplätze und Connections, also mit den Waffen der Frauen. Die Macht verzichtet gern auf Gesichter, operiert lieber von Schweizer Nummernkonten aus, dem letzten Arkanum der Medienwelt. Engmaschige internationale Verflechtungen machen das ohnehin schwer rekrutierbare Charisma auch in der Politik entbehrlich, Hellmuth Kohl hat das hinlänglich bewiesen. Daß ihre Adressaten danach lechzen, ist ein sich selbst neutralisierender Fernseheffekt und im übrigen wieder das Wunschdenken von Kulturtheologen. Nur dort, wo die Strukturen heillos verkrustet zu implodieren drohen, sind Blockadebrecher, sind die Gorbatschovs, noch vonnöten. Ansonsten gilt das Gesetz: mit den Idolen verblassen die Ideale, die sie verkörpern; die neuen werden ohne auskommen müssen, und das wird ihren Charakter gründlich verändern. Mit dem unerschütterlichen Glauben an Ewigkeitswerte braucht sich niemand mehr für die kommenden Aufgaben aufzuputschen, das sollten irgendwann sogar Fundamentalamerikaner begreifen - die Sektierer des franco-jüdischen Differenzdenkens, deren Minoritätenpsychosen beginnen, hierzulande salonfähig zu werden; und die Pathetiker der obsoleten Phrasen. "Wir sind durch nichts aufzuhalten! Alles ist möglich!" Gott behüte. Oder besser Hillary. Aber es ist fraglich, ob Bill Clinton diesen Unterschied zum alten Kontinent noch lernen wird. Hier geht niemand mehr so paulinisch aufs Ganze. Schon gar nicht im Namen von.... Die Zeit der Terminatoren ist in Old Europe vorbei. Die Zukunft legitimiert keine Gegegenwartsvernichtung mehr. Weder provisorisch noch prophylaktisch.

* * *

Von Atalanta wird berichtet[8] , daß sie die Spannkraft des Mannes mit der Anmut des Weibes in sich verband. Sie war berühmt wegen ihrer pfeilschnellen Füße und begehrt ob ihrer Schönheit. Doch zog sie es vor, als Jägerin einsam die Wälder zu durchstreifen und sich fernzuhalten von Ehe und Mann. Bekommen sollte sie nur, so beschloß ihr Vater im Sinne der Artemis, wer sie im Wettlauf besiegte; sterben allerdings, wer ihr unterlag. Und obwohl sie als unbesiegbar galt, schreckte die Bedingung keinen der zahllosen Freier. Auch Hippomenes trat an, beim ersten Anblick Atalantas in Liebe entbrannt. Und diesmal wünschte sie sich, er möge gewinnen. Doch zu sehr stand die Jungfrau im Banne der Erz-Matriarchin, um dem erwachten Gefühl zu vertrauen. Nur ein Zauber konnte den Bann brechen, eine List die Torin besiegen. So rief der Mann Aphrodite um Beistand. Diese schenkte ihm drei goldene Äpfel. Und jedesmal, wenn die Läuferin ansetzte, ihn zu überholen, warf er ihr einen der unwiderstehlich glänzenden Früchte vor die Füße. Und jedesmal bückte sie sich, um sie aufzuheben. Und Hippomenes gelangte als erster durchs Ziel.

Das Spiel der Zukunft könnte eines der gegenseitigen Überlistung, Irreführung, Ablenkung sein; eines, das sich die ineffizienten und inkonsequenten Streiche des Eros zueigen macht, den Agon immer wieder aufs neue in die Logik eines Spiels-im-Spiel zu verstricken - und darin zu zermürben. Der agonisierende Geschlechterkampf sähe sich dann mitsamt seinen Aporien unversehens in nachgeschichtlicher Potenz gespiegelt: als Parodie seiner zwanghaften Fixierungen. Und immerhin werden sie langsamer, die Atalantas, vielleicht auch müde, den Männern immer erst davonzulaufen, um ihnen anschließend, in die Falle gegangen, ständig die Vorwürfe nachzutragen. Dafür haben sie die Naivität abgestreift, so leicht bückt keine mehr sich nach den Liebesäpfeln, und das wäre gut so, wenn sie nur selber welche würfen, endlich ihren Joker ins Spiel brächten, um die rastlosen Hippomenes, die "ungestümen Hengste", vom Kurs abzubringen. Aber vielleicht haben sie das schon getan, und die Männer haben sich durchaus beirren lassen, nur sie, die Frauen hätten das noch nicht bemerkt. Oder sie haben es sehr wohl bemerkt und nutzen längst die Verstörung, um ihrerseits als erste durchs Ziel zu eilen. Womit alles beim alten bliebe.


[1] Peter Sloterdjik, Eurotaoismus. Zur Kritik der politischen Kinetik. Suhrkamp (es), Ffm. 1989. Weltfremdheit. Ffm. (es) 1993. [Zurück]

[2] Zit. nach dem Bericht von Matthias Bröckers in der TAZ vom 26.6.1991. [Zurück]

[3] Den Begriff prägte Klaus Heinrich: Geschlechterspannung und Emanzipation. In: Das Argument 23/1962. Vgl. neuerdings auch Reimut Reiche, Geschlechterspannung, Fischer TB, Ffm. 1990. [Zurück]

[4] Hierzu Peter Sloterdjik: Sendboten der Gewalt. In: Medien-Zeit, Edition Cantz, Stgt. 1994. [Zurück]

[5] Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale?. [Zurück]

[6] Ist es Zufall, daß Jean Baudrillards De la séduction (Paris, 1979) dreizehn Jahre - länger als jede andere seiner Schriften - auf eine deutsche Übersetzung warten mußte? (Von der Verführung, München, Matthes & Seitz 1992). [Zurück]

[7] Jean Baudrillard, Transsexuell. In: Die Transparenz des Bösen. Berlin, Merve 1992. [Zurück]

[8] Am ausführlichsten: Ovid, Metamorphosen, Buch X, 560-680. [Zurück]

Geschrieben anläßlich der Fußball-WM 1994. Bislang unveröffentlicht