Daniele Dell'Agli : Essays : Giftschrank


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Incarnandum est

Über die Transzendenz des Körpers und die Hinfälligkeit seiner Nekrologe. Ein Crash-Kurs und elf Trainingseinheiten

Er ist schon da, wenn wir aufwachen, und immer noch da, wenn wir eingeschlafen sind; Er sieht, wenn wir wahrnehmen, und hört, wenn wir verstehen; es mag zwar gelegentlich vorkommen, daß wir sehen, ohne wahrzunehmen, und hören, ohne zu verstehen (Markus 4.11-12); aber niemals können wir wahrnehmen, ohne zu sehen, oder verstehen, ohne zu hören; und niemals können wir etwas anderes wahrnehmen und verstehen, als das, was Er uns zu sehen und zu hören gibt, ganz gleich ob durch die Sinne oder das Gedächtnis. Denn Er, der Körper, ist "das einzigartige, das wahre, das ewige, das vollständige, das unübersteigbare Referenzsystem".[1] Er, das sind wir, das bin ich als Ensemble spontaner Ich- Zustände und mittelbarer Sich-Gegenstände, das ist die Zweifaltigkeit von Personal- und Reflexivpronomen, von symbiotischer Gemeinschaft, wenn wir einander vergessen, und ergonomischer Partnerschaft, wenn Er mir als Hungernder oder Frierender, Lüsterner oder Schmerzender zum Agenten und Patienten meiner Sorge wird.

In dem berühmten Science-Fiction-Thriller "Invasion der Körperfresser" (nach dem Roman "The Body Snatchers" von Jack Finney) regnen kosmische Keime auf die Erde, aus denen Pflanzen sprießen, deren Früchte äußerlich identische Duplikate der in ihrer Nähe schlafenden Erdlinge ausbilden. Was den Kopien - trotz vollständigem Gedächtnis - fehlt, ist das Konstituens irdischer Subjektivität schlechthin: die Seele. Ihre Auslöschung ist der Preis für ihre Einmaligkeit. Der Titel der Geschichte, die durch mittlerweile drei Verfilmungen bekannt wurde, zeigt also eine doppelte Verschiebungsleistung an: sie spricht von Körperfressern, meint aber Seelenfresser; sie stellt Seelenfresser dar, aber nur, um die Körper als austauschbare zu denunzieren.

Was amerikanische Aliens radikal und über Nacht bewerkstelligen, verabreichen uns deutsche Kulturwissenschaftler (und einige ihrer linksrheinischen Kollegen) in kleinen, aber beharrlichen Dosen, homöopathischen Hochpotenzen sozusagen, über die Jahrzehnte hinweg.[2] Diese Spezies interdisziplinärer Denker nannte sich früher Geisteswissenschaftler und war für die theoretische Intensivbetreuung ihrer Forschungsobjekte - literarische und philosophische Texte - berüchtigt. In den sogenannten neuen Medien witterten die wendigsten unter ihnen die Chance, endlich Anschluß an einem kulturstrategischen Wandel zu finden: sie lockerten die Qualitätskontrollen der Alma Mater für die bis dato als unseriös verschrienen Emissionen und nannten sich fortan Kulturwissen-schaftler. Dem Kompetenzzuwachs entspricht seitdem die periodische Überschätzung des neuen Betätigungsfelds: mit jeder neuen Technologie, die dazu taugt, menschliche Defizite zu korrigieren, seinen Aktionsradius zu erweitern oder gar bestimmte Fähigkeiten zu ersetzen (und welche hätte nicht seit jeher dazu gedient?), wird das Ende des Körpers herbeigeredet; formiert sich unter dem Schock ihrer anfänglichen Anwendungsexzesse der Rückzug vor dem als übermächtig dämonisierten Gegner, wobei je nach Temperament entweder Resignation oder Erleichterung überwiegt. So verrät das Psychogramm dieser mal nostalgischen, mal hysterischen, zuweilen sogar triumphierenden Nekrologe eine seltsam unbekümmerte Identifikation mit dem Aggressor. Ob Cyberspace oder Internet, Morphing- oder Blue-Screen- Verfahren, Videokonferenzen oder künstliche Käfer, ob Samenbanken, Gentransfer oder Organtransplantationen: im gleichen Atemzug wird die Unausweichlichkeit des Neuen unterstellt und dessen vermeintliches Opfer - meistens der "Körper" - vorsorglich verabschiedet. Dessen Ausmergelung zur ontologischen Restsubstanz ist die erste Pflichtübung im vorweggenommenen Gehorsam gegenüber den angeblich großen Tendenzen unserer Zeit. Unschwer erkennt man in der technophilen Zukunftsunrast die altchristliche Gegenwartsflucht wieder, in deren Namen einmal mehr alles Physische zum Ärgernis erklärt wird - sei es, weil es den Utopien der Entmaterialisierung im Wege steht, sei es, weil es ihnen nicht genügend Widerstand leistet.

Nun gibt es für den biologischen Defätismus eines Teils unserer geistigen Elite natürlich Gründe, die ernst zu nehmen sind, und die weiter reichen als etwa Ambitionen, die Kulturwissenschaft in den Rang der Science-Fiction zu heben, oder sich frühzeitig als Zeitgenossen des 23. Jahrhunderts zu qualifizieren. Wie die meisten Akademiker leiden auch ihre Exponenten bekanntlich chronisch, weil von Berufs wegen, an sensomotorischer Deprivation; wenn sie darüberhinaus den Status erlangen, in Büchern und Zeitschriften oder auf Kongressen ihre praktischen Defizite theoretisch zu verallgemeinern, liegt in der Regel jene Lebensphase bereits hinter ihnen, da der Körper noch ebenso unauffällig wie effizient die (metabolische, kinästhetische, hormonelle) Lust am Leben beschert; er drängt sich nunmehr - gebrechlich und störungsanfällig - immer häufiger als Quälgeist ins Bewußtsein, spätestens ab dem vierzigsten Lebensjahr wird die fortgeschrittene Leibvergessenheit von akuten Anfällen der Leibverdrossenheit durchkreuzt. Und so werden wir nie erfahren, ob ihnen jemals der Zusammenhang zwischen endogenem Temperaturabfall und Konzentrationsschwäche aufgefallen ist; ob sie spüren, welch heroischer Anstrengungen es bedarf, im Winter nicht mehr zu schlafen, als Lehrplan und Kongreßbetrieb erlauben; und ob sie womöglich Augenblicke kennen, da ihnen Valérys Einsicht, daß "das Bewußtsein auf dem schwankenden Blutdruck schwebt wie die zitternde Eierschale auf dem Wasserstrahl" (Cahiers III, 321) nicht wie ein sensualistischer Kurzschluß anmutet. Doch selbst wenn sie einfach nur zugeben würden, daß ihnen Hunger, Durst und Müdigkeit, Rückenschmerzen und vielleicht sogar sexuelles Verlangen keineswegs fremd sind, so würde das nichts ändern: solchen Banalitäten würden sie in ihren Diskursen niemals die Bedeutung einräumen, die sie einem neuen Trend auf dem Laufsteg oder den Zerstückelungsphantasien cinéastischer Sadisten, gentherapeutischen Eingriffen oder der Ent-körperungseuphorie kalifornischer Neuplatoniker ganz selbstverständlich zugestehen. Der Grund ist simpel: während diese marginalen Mikrophänomene unserer Zeitgeschichte als Medieneffekte ihre unerbetene Präsenz entfalten, sind die physiologischen Voraussetzungen unserer planetarischen Existenz schlichtweg gegeben und in einem unhintergehbaren Sinne real, das heißt weder technisch noch symbolisch oder imaginär mediatisiert. Das macht sie für intellektuelle Profilierungen uninteressant, um nicht zu sagen inkompatibel; schließlich - so könnte der Kulturwissenschaftler jetzt einwenden - sei seine Disziplin für die harten Facts der ersten Natur auch gar nicht zuständig. Genausogut könnte ein Koch sich an Nouvelle Cuisine versuchen, ohne die Ingredienzien dafür zu kennen.

Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum die vergleichsweise ephemeren Mätzchen eines überhitzten Tertiärsektors alle Jahre wieder zur Parusie einer High-Tech-Zukunft heiliggesprochen werden, in der reale Körper nach Belieben auseinandergenommen, zusammengesetzt, synthetisch aufgerüstet oder gleich kybernetisch substituiert werden. Der Leib, wie wir ihn kennen, genießen und erleiden, taucht im panischen Überholgestus unserer apokalyptischen Futurologen gerade noch als obsoletes Requisit, bestenfalls als ohnmächtiger Widerstand einer überwundenen Phase der Anthropogenese auf. Unfreiwillig mögen solche Rückzugsmanöver durchaus die Ambivalenz einer anhaltenden Faszination bezeugen[3]; doch selbst dezidierte Parteinahmen für den Körper[4] geraten im Banne des "telematischen Verhängnisses" zur Beschwörung seines Absterbens. Trotzig versichern sie uns, daß noch seine gegenwärtige Aufmerksamkeitskonjunktur nichts als die phantasmatische Kompensation seines Verschwindens sei. Doch das Gegenteil ist der Fall.

Erstmals in der Zivilisationsgeschichte wird der Körper - zumindest im Okzident - weitgehend verschont: von ökonomisch diktierter Schindung; von der täglichen Plackerei im Haushalt; von politisch motivierter Folter oder Vernichtung; von Krankheiten, denen er jahrtausendelang hilflos ausgeliefert war. Die Gegenrechnung mit den sogenannten Zivilisationsplagen ist nicht nur zynisch angesichts des unvorstellbaren Siechtums früherer Generationen, sondern überdies falsch, da für die neuen Malaisen (von Autoimmunerkrankungen einmal abgesehen) größtenteils die Unvernuft der Individuen verantwortlich zeichnet - und die verlängerte Lebenserwartung.

1. Die technologische Freisetzung physischer Ressourcen schärft neuerdings das Bewußtsein für eine bislang funktional verdinglichte Dimension unserer Existenz. Erst jetzt kann der vom permanenten Bereitschaftsdienst als Energiesklave und Reproduktionsmaschine erlöste Körper zum Gegenstand einer luxurierenden ästhetischen Sorge mit unweigerlich hypochondrischen Manierismen werden. Der Vorgang ist nicht frei von Ambivalenzen, denn mit ihm erreicht die seit der Neuzeit sich verschärfende Desynchronisation von biologischen Rhythmen und soziokulturellen Lebensformen einen dramatischen Wendepunkt. Das phylogenetische Programm läßt sich von der gelinderten Subsistenznot kurzfristig nicht beeindrucken (Biologen haben für spontane Mutationen eine Durchsetzungsrate von bis zu 50 Generationen errechnet). Was die Zerebralisierung der Berufe im Wechsel mit den Entlastungsangeboten der Komfortindustrie an neuer sensomotorischer Passivität erzwingen, verlangt daher nach Ausgleich in der Disko, im Fitness-Center oder auf dem Sportplatz. Da haben sich die obsessionelen Rhythmen afroamerikanisch inspirierter Musik gerade rechtzeitig globalisiert, um auch den bewegungsmuffeligen Abendländern in die Glieder zu fahren. Die billige Verteufelung des Body-buildings wiederum, die narzißtisch-fetischistische Motive (Attraktivitätssteigerung) betont, übersieht die unbewußt vor allem den Mann umtreibende Unterforderung seiner Grobmotorik (bei der Frau dürfte hingegen das Androgynitätsphantasma den Ausschlag geben). Sie ist der Schlüssel für die massenhafte und hirnlose Sportbegeisterung rund um den Erdball, wobei auch hier die Medien nur das Defizit vermarkten, um es durch Stellvertretungs- Angebote zu perpetuieren (die Gebildeten halten sich dafür an Tanztheater, gegen dessen dynamische Körperpräsenz die gedrechselten Posen des Balletts unwiderruflich an Anziehungskraft verlieren).

Heranwachsende ihrerseits genießen zwar eine Freiheit von körperlicher Abrichtung und pädagogischer, militärischer, kirchlicher Disziplinierung wie noch keine Generation vor ihnen (über die freiwillige Basis für die Torturen von Hochleistungssportlern oder -musikern kann man streiten, es sind Einzelfälle), doch genau dieser mangelnde Druck zur Selbstformung scheint - in Tateinheit mit den täglichen Sitz-und-Glotz- Marathons - die Innervation eines Körperbilds ebenso wie die Suche nach einem geschlechtlichen Selbstbild zu erschweren; beides trägt maßgeblich zu einer Verlängerung der Adoleszenzphase bei, die man angesichts fehlender existentieller (und existenzpolitischer) Alternativen endlich aufhören sollte zu beklagen.

2. Erstmals rücken die lange unterschätzten Nahsinne in den Brennpunkt interdisziplinärer Forschungen zwischen Medizin, Neurophysiologie, Psychologie und Ästhetik: Geschmack, Geruch, Getast, allgemein die Haut sowie Gleichgewichtssinn und Propriozeption. Die neognostische These von der vermeintlich unentrinnbaren Totalisierung der Medienwelt (eine neue Variante von Adornos berüchtigtem "Verblendungszusammenhang") inklusive der Ersetzung realer Körper durch elektronische Attrappen blendet prinzipiell alle durch Nahsinne vermittelten Körpererfahrungen aus. Sie unterscheidet nicht zwischen Nah- und Fernkörpern und entsprechend auch nicht zwischen Fremd- und Selbstkörpern, Schnittstellen zwischen Innen und Außen kennt sie ebensowenig wie unmittelbare Raumperzeptionen. Das Zeugnis der Nahsinne, daß die Welt allein schon durch die Schwerkraft der Körper und die Undurchdringlichkeit der Materie ununterbrochen mehr Widerstände bietet, als sich jemals wegimaginieren oder symbolisch verdampfen ließe, paßt nämlich nicht in teleskopische Denkraster. Medienphilosophen gehören offenbar einer neuen Spezies von Lebewesen an, die sich dank einer erworbenen Diskursschwäche allein auf die Fernsinne verläßt. Doch selbst unter dieser Prämisse können sie die modische Phrase von der Welt des Scheins und der Trugbilder, von Simulation und Substitution nur im experimentellen - also lebensweltlich irrelevanten - Kontext plausibel machen. Spätestens wenn die Augen brennen, der Magen knurrt und das Kreuz steif ist, kehren die "user" aus der fernen Zukunft wieder zurück auf den ehernen Boden ihrer molekularen Tatsachen; aber auch "online" wissen sie - mit Ausnahme puritanisch verkorkster Feministinnen, die habituell keimfreie Telekommunikation vorziehen -, daß ihnen Netzpartner niemals das leibhaftige Gegenüber und Miteinander ersetzen können.

Das gilt erst recht für die n-dimensionale Realität sexueller Begegnungen: Körper sind hier das jeder Vereinigung Widerstehende. Gerüche, Geräusche, Muskelanspannungen, Stoffwechselreaktionen, Juckreize, Schmerzen, Sekretionen aller Art verhindern die symbiotische Verschmelzung. Da kann man von einer "Immanenz des Imaginären" (Kamper) wohl nur unter Bedingungen eines Dauerkoma reden. Ansonsten bietet die Physis haptisch, tonisch und olfaktorisch, algospasmisch, endokrin und kardiorhythmisch den Phantasmen permanent Einhalt, ohne daß Liebende deshalb voneinander lassen würden. Für die Widerständigkeit des lebendigen plastischen Körpers spricht nicht zuletzt die ungeschmälerte Kluft zwischen imaginären und realen Körpern, unter der niemand wirklich leidet; so unterscheiden Männer sehr wohl zwischen Frauen, die sie gern anschauen (Models, Filmstars, anorektische Blondinen) und solchen, die sie konkret begehren, obwohl sie keinem medial gepriesenen Standard entsprechen. Man muß also nicht erst die Beckettsche Intensivstation, den gnostischen Rumpf- und Schmerzkörper bemühen[5] , um Lücken im geschlossenen Universum symbolischer und imaginärer Machinationen zu entdecken: an der unhintergehbaren Realität körperlich vermittelter Erfahrungen hat sich nichts geändert, sie lassen sich nach wie vor nur sehr bedingt simulieren; die Täuschungsanfälligkeit der Sinne beschränkt sich auf wenige Ausnahmefälle, die ihrerseits mangelnder Übung, bzw. verkümmerten Sensorien geschuldet sind. Die Fixierung auf die im Zuge des technischen Fortschritts modernisierten Lebensformen täuscht leicht darüber hinweg, daß die (epistemischen, ökologischen, psychophysischen) Strukturen menschlichen Weltbezugs vom technischen und sozialen Wandel kaum tangiert worden sind: daß die Sonne morgens auf- und abends untergeht wird für Erdenbewohner niemals an Evidenz (und lebenspraktischem Sinn) verlieren.

3. Das höchste Menschenrecht schützt die Unantastbarkeit von Leib und Leben; von Menschenwürde und ihrer Verletzung, von Opfern sensu strictu wird in erster Linie gesprochen, wenn der Körper angegriffen, verletzt oder zerstört wird. Der Begriff des Opfers selbst ist ohne corpus delicti sinnlos. Bis heute gibt es kaum Möglichkeiten, psychische Gewalt gesellschaftlich zu ächten und strafrechtlich zu sanktionieren: der Hochschätzung des Körpers als unbestechlichem Zeugen ist es unter anderem zu verdanken, daß in den Auseinandersetzungen zwischen den Geschlechtern nach wie vor ausschließlich die Männer an den Pranger gestellt werden. In der Strafprozeßordnung wiederum stehen Mörder und Totschläger schon kraft ihrer leibhaftigen Präsenz im Zentrum der Öffentlichkeit und nicht jene, die von ihnen ausgelöscht, vernichtet, buchstäblich aus der Welt, wenngleich nicht aus dem Gedächtnis geschafft wurden. Wie alle Lebenden erfreuen sich Täter ihres körperlichen Daseins und des damit verbundenen skandalösen Aufmerksamkeitsprivilegs.

Dieses Privileg machen sich auch jene Korrektheitsdebatten zunutze, die es am liebsten abschaffen würden: wo immer gegen Diskriminierungen angeblicher oder wirklicher Minderheiten mobil gemacht wird, geht es um primär physische Merkmale: um Geschlecht, Hautfarbe, Rasse, sexuelle Neigungen, Leibesumfang, Behinderungen und Alter. Daß Individualrechte Körperrechte sind, erinnert daran, daß es auch für Menschen kein anderes Individualisierungsprinzip gibt: wie alle Lebewesen sind sie in ihren Körpern vereinzelt, getrennte, in sich abgeschlossene und zugleich aufeinander angewiesene Einheiten. Sie unterscheiden sich primär nach ihrer körperlichen Erscheinung, ihre physiomorphe Verschiedenheit erzeugt die für jede Kommunikation notwendige Grundspannung. Darum gibt der hochmetaphorische Satz, daß alle Menschen gleich sind, und der nur stimmt, wenn man sein Gegenteil sogleich hinzufügt, in der einfältigen Lesart des ethischen Fundamentalismus die Anleitung zur soziokulturellen Entropie des Menschengeschlechts. Da jedoch die Grundspannung sich aus einem phylogenetischen Potential - der genetischen Vielfalt - regeneriert, steht nicht zu befürchten, daß derartige Nivellierungsprojekte sich jemals durchsetzen werden.

Überhaupt erweist sich der Körper als das allen - ökonomischen, politischen, technologischen, symbolischen, phantasmatischen - Totalisierungen Widerständige; den Religionen war er nicht zufällig seit Anbeginn Skandalon und Hauptfeind im Kampf um die Verjenseitigung alles Irdischen - am meisten jener Sekte, die Inkarnation versprach, das animalische Substrat verfemte und dafür das Corpus mysticum inthronisierte. Dabei haben Religionsgemeinschaften lange vor der Neuropharmakologie am besten gewußt, daß ohne den Körper nichts geht, vor allem kein Zugriff auf Seele und Geist und keine Stimulation von Empfindungen und Gefühle; noch heute funktionieren die inquisitorischen Gehirnwäsche-Programme von Sekten nur auf der Grundlage der klassischen Dressuren, die mit sexueller Askese, Schlaf- und Nahrungsmittelentzug, Zwangsarbeit und Gebetsmühlen alle Register physischer Erschöpfung ziehen, um psychische Widerstände zu brechen. Und wer sich teure Opiate und Designerdrogen sparen will, braucht nur bei den Wüstenheiligen, allen voran dem Heiligen Antonius nachzulesen, wie man seinen Körper malträtieren muß, um in den Genuß von Halluzinationen und Trancezuständen zu kommen.

Während traditionelle Machtpolitiken, die sich die Subjekte durch eine nur scheinbar paradoxe Doppelstrategie von ideologischer Ächtung und praktischer Instrumentalisierung des Körpers gefügig machten, an Einfluß verlieren, wirkt die verordnete Verkennung/Verleugnung kreatürlicher Bedürfnisse in den Individuen genealogisch fort. Kaum eines, das nicht lebenslang an den Folgen unterlassener Zuwendungen und falscher Bewegungserziehung (letztere scheint den Platz der falschen Sexualerziehung eingenommen zu haben) laborierte oder nicht gleich seine Traumata körperlich symptomatisierte. Nicht zufällig verzeichnen psychosomatische Medizin und Körperpsychotherapie seit anderthalb Jahrzehnten wachsende Patientenzahlen und die lange ausgebliebene Anerkennung ihrer Heilerfolge; Reich und Ferenczi wurden rehabilitiert; Atem-, Tanz- und Bewegungstherapien, Bioenergetik und Biodynamik (um nur sie zu nennen) ergänzen zunehmend die endlosen und oft genug wirkungslosen Schwatzkuren der klassischen Psychoanalyse. An ihr rächt sich nicht nur die mangelnde Reflexion auf den triebdynamischen Strukturwandel ihrer Klientel besonders in den letzten drei Jahrzehnten; sie hat vielmehr aus ihrer Einsicht in den Körper als Medium unbewußter Konflikte nie ernsthaft Konsequenzen gezogen. Zum Beispiel die, das von Freud verhängte Berührungsverbot selbst als Fall einer Mentalitätsgeschichte verpfuschter Sinnlichkeit zu untersuchen.

4. Die - beliebig ergänzbare - Typologie empirisch unverzichtbarer Körper-präsenz (funktionierender Alltagskörper, medizinischer Krisenkörper, spektakulärer Medienkörper, synergetischer Experimentalkörper, usf.) bestätigt die anthropologische Grundeinsicht, daß es der Körper ist, der den Menschen de-finiert, ihm Form verleiht und die Grenzen seiner Möglichkeiten absteckt. Diese Trivialität wird selten in ihrer ganzen Tragweite bedacht. Denn es sind physiologische Vermögen und Gesetzmäßigkeiten, die das Maß menschlicher Existenz und seiner Erkenntnisse geben. Das meinte schon der Satz des Protagoras, daß der Mensch das Maß aller Dinge ist; und nichts anderes besagt Valérys Formel vom "unübersteigbaren Referenzsystem". Der Körper ist "Objekt, Grenze, Knecht und Herr der Erkenntnis. Ort des Glücks und des Unglücks, der Gegenwart, der Vergangenheit und der Zukunft, Ort des Raumes - all dies erhält seinen Sinn nur durch ihn." (Cahiers II,1322). Kein Gedanke, der nicht - neben den Sinnes- und Gedächtnisdaten - auf einen unvorstellbar feinjustierten Zusammenspiel von Pulsschlag, Atemfrequenz, Blutdruck, Temperatur, Hormonpegeln, PH-Werten, Fett-, Zucker-, Kohlehydrate-, Vitamin- und Wasserspiegeln, etc. angewiesen wäre; ganz zu schweigen von den mikrokosmischen Synchronisationen mit Klima und Wetter, mit Tages- und Jahreszeiten, überhaupt den Resonanzen sämtlicher Umweltbedingungen. "Nihil est in intellectu, quod non fuerit in sensu." Das bedeutet umgekehrt: jede entlastete, substituierte, abgestumpfte oder unentwickelte Sinnesleistung bildet sich als geistige Leerstelle, Armut oder Beschränktheit ab. Man kann nicht den Körper loswerden und den Geist behalten. Darum lautet der sensualistische Grundsatz in der postmodern redigierten Fassung von Michel Serres: "Nichts ist in den Sinnen, was nicht danach in Richtung der Kultur ginge. Nicht in Richtung der Erkenntnis, sondern der Kultur"[6]. Doch diese Einschränkung der Empfangsamplitude auf Einbildungskraft und Affekte ist nur die halbe Wahrheit, denn auch eine von der Empirie abgespaltene Erkenntnis bleibt nolens volens - und sei es subliminal als Endverbraucher vitaler Energie- und Informationsflüsse - auf sie bezogen. Was nicht integriert wird, rächt sich am Resultat: als Theorieblindheit, uninspirierte Diktion, zynische Sozialtechnologie, architektonische Ödnis, usw.. Incarnandum est: das Wort versiegelt das Fleisch, wenn es das Geschenk der Sinnesdaten nicht annimmt, schreibt Serres. Falsche Diagnosen, falsche Rezepte. Aber das Wort, der logos, hat gar keine Wahl: entweder es verkörpert sich - oder es geht an seinen Abstraktionen zugrunde.

5. Der begrenzte Vorrat an Mythen und Erzählmustern, an Dramaturgien, Szenarien und Geschichten, den selbst Science Fiction und Special Effects nur um klägliche Varianten bereichern konnten, geht darauf zurück, daß kulturelle Objektivationen sich der Anthropomorphisierung des Nichtmenschlichen verdanken. Unter Anthropomorphismus versteht man in der Religionswissenschaft die menschenähnliche Gestaltung der Götter[7]; grundsätzlicher meint der Begriff, daß jede Erkenntnis und jede Gestaltung anthropomorph ist; die morphé des anthropos aber, die Form des Menschen, ist der Körper. Die projektive Triebkraft unserer Zivilisation ist demnach ein Physiomorphismus. Er ist das Apriori auch einer Technik- als Prothesengeschichte: alles, was menschliche Arbeit ersetzen soll, von der Schaufel bis zum Computer, muß darum - auch als digitales Spielzeug - immer eine anorganische Analogie des jeweiligen menschlichen Organs oder - in einer fernen Roboterwelt - des Organismus sein. Eine ganze Wissenschaft, die Bionik, erforscht Verfahrensweisen und Problemlösungen der Natur für Körperfunktionen, Materialien und Bauweisen zum Zweck ihrer analogischen Rekonstruktion auf technischem, chemischem oder elektronischem Niveau. Das digitale Zeitalter, dessen Ende sich mit der Vision des Biochip als Grundlage analoger Rechner bereits abzeichnet, wird man als skurrile Episode im evolutionären Kontinuum der analogischen Ein- und Mißverständnisse zwischen Mensch und Natur verzeichnen.

Die wieder zunehmende Bedeutung der Analogie ist darüberhinaus ein untrügliches Indiz für die fortwährende Unverzichtbarkeit des Körpers auch als Garant von Individualität und Träger schlechthin nicht simulierbarer Identitätsmuster. So sind sich Polizei- und Versicherungsexperten einig, daß nur solche Identifikationssysteme fälschungssicher arbeiten können, die auf die Erkennung von Merkmalen wie Fingerabdrücke, Retina, Venenmuster des Handrückens, physiognomische Details oder Stimme basieren, die künftig Gegenstand einer scannenden Prüfung beim Benutzen von Kreditkarten, Ausweisen, Wegfahrsperren, Gebäudezugängen etc. sein werden. An diesem Beispiel zeigt sich, wie das körperliche Band zwischen Kultur und Natur sich auf jedem neuen technologischen Niveau wiederherstellt.

6. Die Evidenz des Unverwechselbaren gilt vor allem in menschlichen Beziehungen als ultimativer Maßstab. Jemanden "persönlich" kennenlernen, heißt nicht zufällig, ihm leibhaftig begegnen; keine Telekommunikation wird jemals die Bedeutung eines Händedrucks, die Chemie von Anziehung und Abstoßung, den schillernden oder trüben Gesamteindruck, die "Ausstrahlung", usf. ersetzen. Eine unmittelbar wahrgenommene Mimik oder Gestik, eine Art zu gehen, sich zu kleiden etc. hinterläßt einen ungleich intensiveren Eindruck als ein Brief, eine telefonisch ausgedünnte Stimme oder eine Videoaufzeichnung. Der Mensch ist und bleibt ein lebendige Gestalten erlebendes und erinnerndes Wesen, er ist auf Verkörperung angewiesen - ohne sie fehlte ihm der Reiz zu jeder Form von Interaktion oder symbolischen Austauschs, dessen vernetzte Schwundstufen nur (und immer nur temporär) dank der imaginativen Ergänzungsleistungen des Gedächtnisses erträglich sind. Alteritätsphilosophien aber, denen der Andere allein im Antlitz, nämlich theomorph, erscheinen will, müssen zur Kenntnis nehmen, daß es der animalischste (und komplexeste) Sinn, der Geruch ist, der (weitgehend unbewußt) über Sympathie oder Antipathie entscheidet.

7. Das Lebendige, das zoon, ist das Erscheinende, wußten schon die Griechen, und weil das Erscheinende der Körper ist, verbindet sich der Physiomorphismus unauflöslich mit oculozentrischen Fixierungen, die entgegen etablierter Meinung das Repräsentationsrepertoire aller bekannten Kulturen - nicht nur der abendländischen - dominieren. Das gilt insbesondere für die vielfältigen Formen der Idolatrie, die seit der Antike die einzige Konstante im heidnischen Widerstand gegen die Abstraktionen des Monotheismus und seiner säkularen Abkömmlinge darstellen. Die Faszination audiovisueller Medien ist deren aktuelle Gestalt. Und diese ist beunruhigend genug. Während Werbung und Fernsehen - auch darin zusehends verwandter - mit der Vergötzung makelloser Körper und dem Schein ewiger Jugend um Einschaltquoten buhlen, dient ein nicht unbeträchtlicher Teil der technischen Phantasie, die in den Produktionen der Filmindustrie investiert wird, sichtlich dazu, möglichst effektvolle, wenngleich selten realistische Bilder gefolterter, vergewaltigter, durchlöcherter, zerstochener, verbrannter, zerquetschter, aufgeblähter, zu widerwärtigen Karikaturen verformter Körper herzustellen (und sie entsprechend kakophonisch zu untermalen).

Man kann - wie immer - auf den "Stand der Technik" verweisen und feststellen, daß bestimmte Exzesse der Darstellung offenbar einer infantilen Lust entspringen, neue Rechnerkapazitäten auszureizen. Und sogleich die Frage anschließen, ob man mit den Möglichkeiten zu immer raffinierteren Bearbeitungen von gegebenem Bildmaterial überhaupt anderes hervorbringen kann als immer raffiniertere (und lächerlichere) Übertreibungen realer Phänomene. Die Faszination für das Monströse indes - für Abnormes, Ekelhaftes, Unheimliches -, die von der massenhaften Nachfrage der Adressaten geteilt wird, muß als symptomatisch für den gegenwärtigen Stand des kollektiven Imaginären gelesen werden. Unabhängig von den noch unausgeloteten psychosozialen Implikationen des Horrorkonsums darf man als Kehrseite der Angstlust an bis zur Unkenntlichkeit verstümmelten Rest-, bzw. verunstalteten Mischkörpern teils eine allergische Reaktion auf die obsessiv mediatisierte Körpersensibilität, mehr noch aber den Verlust des Körpers als vertrautes Maß und Selbstbild vermuten.

Bezeichnenderweise sind es vorwiegend Jugendliche und Adoleszenten, die sich schaudernd den paroxystischen Leibesöffnungen und Verrenkungen der Mensch-Tier- und Mensch-Maschine-Amalgame aussetzen. In den maßlosen Entstellungen, deren Eskalationsdynamik den Überdruß an sich selbst mit programmiert, sind die Zuschauer ihres Spiegels und damit ihrer Kenntlichkeit beraubt, und sie genießen diese Selbstfremdheit als unterhaltsame Fiktion; sie gleichen Rauchern, die sich ahnunghslos über ihre verschatteten Röntgenaufnahmen amüsieren. Dieses Fremdwerden der eigenen Gestalt verdichtet sich nicht zufällig in der Figur des Alien, des (fast immer) bösartigen extramundanen Fremden, der die Einfallstore zum Unbewußten am Ende des Jahrtausends belagert. An ihm kann man den unkontrolliert befreiten, formwidrig entfesselten, entgeisterten Körper studieren; die ungewohnte Freiheit der Verwandlung, einer ziellosen, unklaren, selbstzerstörerischen Verwandlung, durchspielen. Das Alien spiegelt seinen Wirten - wie comichaft überzeichnet auch immer - wider, was sie mit ihrem eigenen Körper anstellen. Denn der monströse Körper ist der enttabuisierte, dem wissenschaftlichen Zugriff ebenso ausgeliefert wie der individuellen Stilisierung; das Nachlassen von Erziehungs- und Leistungsdruck, insbesondere aber der Geschlechterspannung hat ihn in einen gefährlichen Sog ungeregelter Profanisierungen gerissen, mit dem Risiko, zum Freiwild nicht primär - wie allenthalben befürchtet - für genetische Versuche, sondern für autoplastisch forcierte Mutationen zu werden. Das gelegentlich geschlechtslose, meist jedoch zweigeschlechtliche Alien verkörpert den psychosexuellen Nihilismus unserer Zeit: der "unheimlichste aller Gäste" (Nietzsche) ist der Androgyn.

8. Je pedantischer Neurowissenschaftler und Genetiker den Monismus der biologischen (Selbst-) Steuerung organischer und geistiger Prozesse mit Gehirn- und Genom-Karten tapezieren, desto verbissener halten im Gegenzug Kulturwissenschaftler an der wirkungsmächtigsten Illusion der Neuzeit fest, derzufolge der Mensch als Tabula rasa auf die Welt kommt, als unbeschriebenes Blatt, das bis hin zu seinen sekundären Geschlechtsmerkmalen erst im Zuge seiner Sozialisation beschrieben wird. Imgrunde hat dieser Aufklärungsfundamentalismus, der die Relevanz natürlicher Gegebenheiten für die conditio humana seit Jahrhunderten leugnet, das Vermächtnis christlich-platonischer Leibfeindschaft am würdigsten vollstreckt. Die Eskamotierung des Körpers als eigensinniges Subjekt aus dem Prozeß der Menschwerdung ist der Kammerton aller kulturalistischen Relativismen und keineswegs erst die Folge technologischer Substitutionen. Die Kulturwissenschaftler haben selbst die Front errichtet, gegen die sie publizistisch anrennen.

Ungebrochen wirkt die Ideologie der Tabula rasa als heimliches Regulativ ethischer Diskussionen. Aber die stillschweigende Voraussetzung der unendlichen Manipulierbarkeit eines humanoiden Substrats widerspricht nicht nur der mangelnden Einsicht in seine Entwicklungslogik und den entsetzlichen Resultaten ihrer modernen Erprobung. In der Konsequenz läuft sie auf die Eliminierung des diachronen Widerparts zum totalitären Projekt einer synthetischen Selbsterschaffung des Menschen und seiner Lebenswelt hinaus. Mit der Leugnung eines Nichtgemachten beraubt sich das Denken selbst jenes der Ordnung des Wissens transzendenten Reservats, aus dem es einzig noch kritische Distanzierungspotentiale zu seinem Treiben schöpfen könnte.

Die Verfügungsgewalt über das phylogenetische Erbe, die vehement kriti-siert wird, wenn es um ökologische, gentechnische oder medizinische Eingriffe geht, nehmen die Eiferer demnach ganz selbstverständlich für ihre kontingenzbereinigte Anthropodizee in Anspruch. Wer aber vor Genmanipulation warnt, sollte vom Kulturgeschlecht schweigen. Ob man sich das Menschenmaterial in diskurspolitischen Langzeitversuchen zurechttrimmt oder gleich mit Spritze und Pipette züchtet: wer mag entscheiden, was humaner ist? Wer keine Grenzen kulturtechnischer Formation akzeptiert, hat sein Recht verwirkt, gegen Eingriffe ins Erbgut zu opponieren. Es ist derselbe Ungeist, der im wissenschaftlich-demiurgischen wie im kulturalistischen Wahn triumphiert. Man kann nicht den biologischen Körper zur willkürlich formbaren Stoffmasse entwerten und zugleich behaupten, man würde ihn nicht verachten; die Entmächtigung selbst zeugt von nicht zu unüberbietender Verachtung.

9. Nur vor dem Hintergrund der kulturalistischen Ideologie war die Karriere eines so unsinnigen Begriffs wie dem der "virtuellen Realität" denkbar. Was an einer datengestützten elektronischen Simulation realer Vorgänge und Szenarien virtuell, also mögliche Wirklichkeit sein soll, ist nicht einzusehen; noch weniger, welcher (phänomenale, ontologische, ästhetische) Status einer digital erzeugten dreidimensionalen Bilderwelt zukommen soll, wenn sie gar - dem Wunschdenken ihrer in Plastikanzügen verkabelten Cyborgs zufolge - Realität sui generis, also weder Nachstellung/ Verfremdung noch Antizipation, sondern Analogon der lebendigen Welt sein soll. Weder wird aus Chips und Algorithmen je eine Biosphäre mit Wesen aus Fleisch und Blut entstehen, noch werden diese jemals ihre irdische Materialität abstreifen und sich umgekehrt in Schaltkreise verwandeln. Und daß die armseligen Synergierlebnisse, die noch nichtmal mit Jahrmarktsattraktionen konkurrieren können, bereits zu sensorischen Äquivalenten aufgewertet werden, müßte auf neurologische Ausfälle der Probanden schließen lassen, wenn das meiste daran nicht ohnehin Autosuggestion wäre. Das Attribut "virtuell" reduziert sich darauf, daß man die betreffende "Realität" jederzeit per Knopfdruck oder Stecker ausknipsen kann. Immerhin ist dieser Netztod um einiges realer als jenes "Leben im Netz", das umso weltflüchtiger umherirrt, je globaler es navigiert. Wollte der Cybernaut hingegen die verschmähte Wirklichkeit abstellen, die doch seine Spielereien alimentiert, müßte er sich mit der Datenbrille gleich den Kopf abreißen. Daß aber der Slogan sich selbst in Philosophenhirnen so unangefochten einnisten konnte, ist der konstruktivistischen Grundstimmung des Zeitgeistes zuzuschreiben, derzufolge die Welt nur in dem Maße wirklich ist, als sie im Kopf entworfen wird, daß "da draußen" also nichts ist, was nicht zuvor gedacht, errechnet, vorgestellt oder imaginiert worden wäre. Entsprechend wurde die Cybernoia in der Formel zusammengefaßt, daß "die Kultur bereits im Kopf existiert, bevor sie Wirklichkeit wird (Mark Pesce)."

Immerhin ist dieser epistemologische Mainstream soweit in die angeschlossenen Netzwerke gesickert, daß mittlerweile jeder sogenannte Intellektuelle seine Einlassungen mit dem Statement beginnt, daß es keine objektive Realität gibt, womit seine Adressaten wohl darauf eingestimmt werden sollen, daß er keine oder allenfalls eine beliebig relativierbare Position vertritt (und irgendwann womöglich bestreiten wird, sie je vertreten zu haben). Aber wo es keine objektive Realität gibt, da gibt es auch keine Körper, jeder Rekurs auf sie wäre in der Tat hypothetisch, d.h. virtuell, jede Interaktion mit ihnen rein zufällig. Um gar keine Zweifel über die Dignität dieses neuen Weltzustands aufkommen zu lassen, besteht die ISDN-genormte Surfer-Szene seit einiger Zeit auf ein neues Status-Prädikat: Cyberspace als "dritte Natur". Und auch dieses Kalkül scheint aufzugehen: mit jedem Multiplikator, der den Schwachsinn nachplappert, gewinnt das Schlagwort an Glaubwürdigkeit, auch wenn halbwegs vernunftbegabte Erdenbewohner wissen müßten, daß der Begriff Natur für ein allumfassendes System phänomenaler Selbstverständlichkeiten reserviert ist, die modus vivendi und criterium existendi der Gattung insgesamt definieren. Aber der Selbstbetrug hatte bereits mit der Rede von der "zweiten Natur" begonnen, die unterschlägt, in welch entscheidendem Ausmaß die Basiskulturen der Menschheit - Essen, Kleiden, Wohnen/Bauen - von den jeweiligen klimatischen, geomorphologischen und im engeren Sinn ökologischen Bedingungen geprägt sind. Es ist an der Zeit, daran zu erinnern, daß es für Wahrnehmungsdaten, Formempfinden und Wertkriterien objektive realistische (naturalistische) Universalien gibt, ohne welche diese arrogante Spezies sich niemals über einen protofamiliären Verband hinaus entwickelt hätte.

10. Die zeitgenössische Verdrängung/Verleugnung des Körpers hat eine geschlechteranthropologische Dimension - wiederum eine empirische und eine transzendentale -, die korrekterweise nicht unterschlagen werden soll. Denn die radikale Verwerfung biologischer Determinanten bei der psychosexuellen Differenzierung des Individuums ist zum Dogma und Offizium einer unter dem Titel Gender-Studies weltweit missionierenden Kaste von Hohepriesterinnen und ihrer seminaristischen Lakaien geworden. Wer jedoch - wie sie - bereit ist, den plasmatischen Aggregatzustand eines zig Jahrmillionen alten Gedächtnisses so eilfertig, nämlich soziogenetisch zur Disposition zu stellen, hat entweder ein virtuelles oder ein funktionales Verhältnis dazu. Beides ist kennzeichnend für einen feministischen Diskurs, dessen asketischer Rigorismus lediglich einen psychohistorisch konstanten Körperbezug des weiblichen Geschlechts auszuagieren scheint. Die Verblendung geht soweit, daß selbst der Nachweis invarianter Geschlechterstrukturen quer durch alle Epochen, Ethnien und Gesell-schaftsformen zum Beleg für die These von der sozialen Konstruktion des Geschlechtswesens[8] genommen wird (so zuletzt in der Ausstellung "Sie und Er - Frauenmacht und Männerherrschaft" der Josef-Haubrich-Kunsthalle in Köln).

Funktionen können ersetzt werden, Erscheinungen nicht: das ist eine fundamentale Asymmetrie zwischen den Geschlechtern von Anbeginn. Die Insistenz der Frau auf eine rein funktionale Körperlichkeit des Mannes (Statur, Kraft, Ausdauer, Potenz) zwecks Schutz, Ernährung und Fortpflanzung der Familie, war und ist ihr dominierendes Selektionskriterium. Es ist heute auf die körperlose Materialität finanzieller und sozialer Versorgungsleistungen (Solvenz, Status) allgemein übergegangen, auf die Frauen unverdrossen selbst dann bestehen, wenn sie beruflich und finanziell unabhängig sind. Ihrer Weigerung, den männlichen Körper ästhetisch, d.h. unabhängig von seinem Tauschwert wahrzunehmen, entspricht die tauschwertfixierte Stilisierung des eigenen für den Partnermarkt. Es ist dieselbe Einstellung, die umgekehrt in klassischer Projektion zum Generalverdacht (und konkretem Vorwurf) gegen die Männer gewendet wird, sie wollten 'nur' das Eine, liebten an Frauen 'nur' (!) ihren Körper. Wer sinnliches Verlangen so denunziert, lebt offenbar in Unkenntnis sekundärer Prozesse und agiert in einer Mischung von Bitterkeit und Aggression das defizitäre Verhältnis zum eigenen Körper aus; denn nichts transzendiert die bloße Materialität seiner funktionalen Bestimmungen so selbstverständlich wie der ästhetisch mediatisierte Eros.

Der Abwehrmechanismus des putativen Nur, das dem Mann bereits ante festum vorhält, Vergnügen über Pflicht zu setzen, bzw. für die Folgen der Lust nicht aufkommen zu wollen, verrät einiges über die mißlungene Integration des Körperbezugs als Moment weiblicher Identität; es offenbart aber darüberhinaus auch das fehlende Selbstvertrauen in die anderen Eigenschaften ihrer Persönlichkeit, die ja schon ziemlich dürftig sein müssen, um einem Mann zu unterstellen, er könne sie ausblenden und sich 'hinterher' mangels weiterer Anreize wieder abwenden. Selbstbewußt gilt die Frau, die darauf besteht, 'um ihrer selbst willen' geliebt zu werden - als ob ihre Seele etwas anderes wäre als ihr Körpergefühl -, und ist doch nur die um ihr Sinnenglück betrogene letzte Statthalterin abendländischen Authentizitätskults samt seiner Phantome der Eigentlichkeit. Ihre törichte Trennung von Außen und Innen, Körper und Seele, Liebe und Leidenschaft perpetuiert die Verkörperungsunfähigkeit platonisch-christlicher Meta-Physik.

Der skizzierten doppelten Verleugnung des natürlichen Körpers (der theoretischen seiner autonomen Rolle im Prozeß der Ontogenese; der autobiographischen seines Anteils am individuellen Selbst) entspricht als Komplementärstrategie die offensive Positionierung des alternativen Leitbilds eines androgynen Körpers. Der Mythos vom ursprünglich vollständigen, erst später in weiblich und männlich zerfallenden Geschlecht sollte den sektiererischen Kampf gegen die - natürlich "frauenfeindliche" - "Vorherrschaft der Heterosexualität" (sic!, Butler ) hochkulturell beglaubigen; de facto ist er (wegen mangelnder Praktikabilität?) einer ganzen Generation von Frauen zur trotzigen Autarkie-Devise bei der beruflichen, psychischen und ästhetischen Lebensbewältigung geworden. Sein zeitmäßer Typus ist der weibliche Single (mit und ohne Kinder), der sich gegen die tagnächtliche Evidenz seiner Wünsche mit der Doktrin vom selbstgenügsamen Doppelgeschlecht abzuhärten sucht. Aber der Traum vom Androgyn gebiert Aliens. Die von Sigourney Weaver bestrittene Alien-Tetralogie, die nach wie vor massenhafte Begeisterung bei weiblichen Kinogängern auslöst, läßt keinen Zweifel daran. Zur Identifikationsfigur für Millionen Frauen der Nordhemisphäre wurde eine Heroine, die 1. den wahnhaften Anspruch, sogar archetypisch männliche Qualifikationen (schießen, schlagen, taktisch- operative Kaltblütigkeit, interplanetare Navigation) besser zu erfüllen als die Spezialisten der Branche, in Vollendung verkörpert; 2. ohne sichtbaren Leidensdruck das künftige Amazonen- Programm - unbemannt durch den öden Weltraum sausen und aus der Tiefkühltruhe nur auftauen, um Ungetüme aufzumischen - absol-viert, libidinös einzig an phallischen Tötungsmaschinen angeschlossen; 3. dabei sich ihrer weiblichen Konstitution derart entfremdet, daß sie dem Monster, das sie bekämpft, immer ähnlicher wird. Der Verweis auf die männlichen Drehbuchautoren und Regisseure dieser Filme führt nicht weiter, da die Figur eindeutig von der Protagonistin (auch nach eigener Aussage) gestaltet wird, die für die beiden letzten Folgen obendrein als Produzentin verantwortlich zeichnet. Der Entwurf dieser monströsen Superfrau liest sich eher wie die manisch-expressive, formal outrierte Umsetzung von Drehbüchern, die in den Gender- Konventikeln von Berkeley, Princeton oder John Hopkins geschrieben wurden. Daß Männer-phantasien dabei am Werk sind, ist schon ikonographisch unvermeidlich und sollte nicht von der unbequemen Frage ablenken, was am gegenwärtigen Aufbruch der Frauen Anlaß zu solch traumatischen Horror-Visionen gibt. Die Resonanz darauf gibt ihnen jedenfalls nachträglich recht: der Wille zur Macht ist heutzutage weiblich konnotiert.

11. Was wir mit dem Körper anstellen, tun wir zu seinen Bedingungen - oder wir erzeugen Monster. Das gilt für die Natur insgesamt. Die Gentechnologie ist gewarnt, nicht zuletzt dank öffentlicher Wachsamkeit; die (de-) konstruktivistische Sozialreligion hingegen scheint von jeder Kontrolle, sprich Kritik dispensiert. Wer seine Argumente nicht auf Linie bringt, wird mit dem Bannfluch des Biologismus belegt (dieser scheint die morschgewordene Faschismuskeule beerbt zu haben). Den Körper ficht es nicht an, er steht mehr denn je im Rampenlicht: als Täter, Opfer oder Zeuge im täglichen Drama von Selbsterhaltung und Selbstbehauptung, als Protagonist aller menschlichen Verwicklungen, im Fokus von Erziehung und Strafrecht, Ernährung und Medizin, Ökologie und Kunst. Und das nicht trotz, sondern wegen seiner fluktuierenden Bestimmungen.

Die von schleichender Arbeitslosigkeit ausgehöhlte Muskelkraft, die Deregulierung der Geschlechterrollen, die Auflösung, respektive Liberalisierung der großen Körperschaften - Kirche, Staat, Schule, Partei, Militär, Justiz, Vereine - haben den Körper in ein Orientierungsvakuum entlassen, in dem er benommen und überempfindlich zugleich nach neuen Konturen sucht, nackter und einsamer als je zuvor, gehalten allein von den Idiosynkrasien und dem Seinsvertrauen des Individuums. Diese Ungeschütztheit macht ihn einerseits attraktiv für Sensationsgier und Forscherinteresse, andererseits elastisch für willkürliche Inszenierungen und Metamorphosen, die erst noch lernen müssen, sich mit ihm, seinen Potentialen und seinen Ansprüchen zu verbünden. Die erheblichen Reibungsverluste dieser Selbstversuche könnten sich allerdings als sinnlos erweisen, wenn sie zu Opfern auf dem Altar eines gattungsgeschichtlichen Revanchismus verklärt werden. Lange genug, sollte man meinen, zappelt die Gleichberechtigung der Geschlechter in der Falle ihrer Rechtsförmigkeit, die alle wesentlichen Themen tabuisiert hat. Die sexuelle Differenz, Matrix von Verkörperung überhaupt, droht zum Motor sexueller Entmischung zu werden.

Wenn das Spiel auch wieder offen ist, so sind die Regeln so fremd wie zu Beginn unserer Zeitrechnung: Incarnandum est. "Es" ist zu vollbringen, es steht noch aus, oder es ist immer wieder aufs neue zu vollbringen: denn die Fleischwerdung des Geistes kann sich nicht darin erschöpfen, dessen Intelligenz oder Weisheit zu dechiffrieren; die Transzendenz der Leiblichkeit gegenüber sie angeblich erst "materialisierenden" Interpretationen ist ebenso konstitutiv und uneinholbar wie gegenüber ihren subjektiven Ausdrucksformen. Das Verschwinden des (biologischen) Körpers hinter performativen Effekten (Butler) oder audiovisuellen Zurichtungen (Kamper) zu postulieren heißt, die Differenz zu leugnen zwischen den stummen und unbewußten Vorgängen tief im Inneren der Materie und jener dünnen gekräuselten Oberfläche von Bewußtseinsinhalten, die wir mit der Kontrastfolie unserer kulturellen Verständigungsmuster zuweilen entschlüsseln, oftmals aber auch verkleben. Nur darum können Worte das Fleisch öffnen, Bilder die Lüste entfachen, weil die Körper nicht in den Bildern und die Lüste nicht in den Worten aufgehen. Die hemmungslose Zurschaustellung und Zerschwätzung des Körpers bedarf zu ihrer Korrektur patristischer Verbote ebensowenig wie die "subversiv" parodistischen, oft nur tragikomischen Geschlechter-Travestien; sie werden sich von selbst erschöpfen, sobald die ersten Mediengenerationen die Kostüme ihrer vor den Monitoren vergreisenden Jugend abstreifen. Eine body art der Zukunft, die sich konsequent von der Fläche löst, könnte noch am ehesten Modelle entwerfen dafür, wie die ikonodulen Ströme aufzufangen und in den Raum zurückzulenken wären; integrierte Gesamtskulpturen, denen es gelingt, den stets auf die Videoaufzeichnung schielenden Performance-Narzißmus zu überwinden, könnten bereits jetzt mit dem wachsenden Interesse für Rauminstallationen, unaffektiertes Tanztheater und fragmentarischer Plastik rechnen.

Noch ist der mentalitäts- und triebgeschichtliche Zusammenhang zwischen der Telekommunikation und den sensoriellen Defiziten protestantischer Kultursphären unerforscht; Distanzbeziehungen, Intimitätssurrogate, die Verhärtungsroutinen der Unbedürftigkeit: es scheint, als ob sich die klassischen Formen deutscher und angelsächsischer Lebensverneinung ihre adäquaten Medien geschaffen hätten. Lieber im Netz zappeln als die neuen Beziehungsfreiheiten riskieren, so braucht man sich niemanden vom Leibe zu halten. Als ob man ohne die Berührung des anderen jemals "sich" empfinden, an die von den Fliehkräften der Geltungssucht betäubte Seele rühren könnte. Denn die Seele ist in der Zeit, was der Körper im Raum. Sie weitet sich mit der sinnlichen Erweckung des Körper-Ichs, sie schrumpft und verdorrt, wo diese ausbleibt. Nicht die neurophilosophisch angemahnte Aufgabe der Unterscheidung von Körper und Seele, sondern - tertium datur - die Auflösung der Notwendigkeit (und damit der Bedeutsamkeit) einer solchen Unterscheidung (und damit des Glaubenskriegs zwischen Dualisten und Monisten) würde gegen die "Strategien von oben" (Alexander Kluge) immunisieren: gegen religiöse Bevormundungen oder technokratische Reglementierungen, moralische Letztbegründungen oder spannungsneutrale Geschlechter-Konfigurationen.

Incarnandum est: die Verdiesseitigung des Homo sapiens hat kaum begonnen, da strebt dieser schon seine artifizielle Überbietung an. Aber der intuitive Lebensvollzug lebender Organismen markiert auch die Grenze künstlicher Intelligenz: denn er steht unter dem Imperativ der Selbsterhaltung. Niemals werden synthetische Ausgeburten Innovatives leisten, weil kreative Akte dem Abgrund der Sterblichkeit abgerungen sein wollen.[9] So wie der Körper dem Geist immanent ist - als Anschauungsform, Erfahrungshorizont und Gestaltungsspielraum -, so wohnt der Geist dem Körper inne: als Bewußtsein seiner Endlichkeit. Die spontane Eingebung, das Unberechenbare, Neue, Überraschende: nur Interferenzen zwischen dem Bewußtsein und einem nichtmenschlichen Unbewußten, dem Gedächtnis des Körpers können sie gewärtigen. Das Unvollkommene, Leidende, Bedürftige, das lebendigen Wesen die Kraft zur Verwandlung gibt, fordert die Mortifikation, den Wunsch nach Dauer, das Werk heraus; und synkopiert zugleich den schöpferischen Prozeß mit seinen regenerationsbedingten Pausen, Störungen, Unterbrechungen. Nur diese andere Zeit, diese Trägheit des Organismus, die Langsamkeit seiner Rhythmen, sein biozyklisches Beharrungsvermögen garantiert die mimetische Erträglichkeit dessen, was wir uns zumuten, indem wir es entwerfen. Zugleich bewahrt uns die Gnade der ewigen Wiederkehr vor dem Horror der irreversibel ablaufenden Zeit: nur, weil wir jeden Morgen mit dem Gefühl aufwachen, das Leben neu zu beginnen; weil wir nach jeder guten Mahlzeit und jedem erfüllenden Liebesakt uns wie neugeboren fühlen, werden wir des näherrückenden Datums unseres Todes nicht inne, bleiben wir mit einem durch nichts gerechtfertigten Optimismus der Aufgabe unseres Daseins treu, anstatt in eine lähmende Dauerdepression zu verfallen.

Ob als Koordinatensystem und Daseinskompaß, Außenreferenz, Seismograph seelischer Erschütterungen oder Indiz für Lebendigkeit: auf unabsehbare Zeit wird der Körper die einzige Quelle unserer Wahrnehmungen und Empfindungen bleiben - fundamentum inconcussum und Schicksalsmedium unserer Weltzugehörigkeit, Hardware noch aller ihm zugedachten Nachrufe und Grabreden. "Doch wie kommt es, daß wir dies nicht ständig wissen?... Stets muß dieser Körper von uns wiedergefunden werden in unseren sämtlichen Fragen - und es muß sogar aufgezeigt werden, wie er unsichtbar sein konnte." (Valéry)


[1] Paul Valéry, Cahiers/Hefte 3, Frankfurt/1989, S. 315. [Zurück]

[2] Ich nenne summarisch und stellvertretend alle einschlägigen Schriften von Jean Baudrillard, Vilém Flusser, Norbert Bolz, Dietmar Kamper, Friedrich Kittler, Gerburg Treusch- Dieter, Paul Virilio und Peter Weibel seit Ende der siebziger Jahre. [Zurück]

[3] Jüngstes Opfer dieser Alarmstimmung, die just der unwahrscheinlichen Entwicklung Akzeptanz und Resonanz verschafft, die sie zu bekämpfen vorgibt: Bernd Guggenberger, Das digitale Nirwana, Hamburg 1997. [Zurück]

[4] Z.B. Dietmar Kampers Abgang vom Kreuz, München 1996. [Zurück]

[5] Wie unlängst wieder Silvia Bovenschen: Soviel Körper war nie, in Die Zeit 47/1997. [Zurück]

[6] Die fünf Sinne, Frankfurt/M. 1993, S. 247. [Zurück]

[7] Vgl. Klaus Heinrich, Anthropomorphe. Dahlemer Vorlesungen 2. Basel, Frankfurt/M. 1986. [Zurück]

[8] Vgl. Judith Butler, Körper von Gewicht, Berlin 1995, S. 19-84. Um dem Vorwurf zu begegnen, sie würde bei der Konstruktion des Geschlechts die (Körper-) Materie ausblenden, ist die Autorin in diesem Buch dazu übergegangen, den Begriff der Konstruktion durch den der Materialisierung des Körpers zu ersetzen, was jedoch an ihrem Ansatz nichts ändert, denn auch die Materialisierung der sexuellen Differenz vollzieht sich ihr zufolge als eine ausschließlich kultureller Normen und nicht eines genetischen Programms. [Zurück]

[9] Vgl. hierzu die eindringliche Meditation von Jean-Francois Lyotard: Ob man ohne Körper denken kann, in: Das Inhumane, Plaudereien über die Zeit. Wien 1989. [Zurück]

Geschrieben 1997/98. Bislang unveröffentlicht