Daniele Dell'Agli : Essays : Philosophie


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Die Zeit, die ausbleibt

Antwort auf die Preisfrage der Zeitschrift Lettre: "Die Vergangenheit von der Zukunft, die Zukunft von der Vergangenheit befreien"

Prolog: Von den drei Zeitfragen

Fragt man, wie Augustinus, "wo ist die Zeit?", so lautet die Antwort: in der Vergangenheit. Nur dort kann man sie aufsuchen, denn nur dort ist sie zum Raum objektiviert. Raum ist nichts als vergangene Zeit.

Fragt man, "wann ist die Zeit?", so lautet die Antwort: in der Gegenwart. Denn gleichviel ob ich Vergangenes erinnere oder Künftiges plane, immer vergegenwärtige ich die Zeit.

Fragt man hingegen "wie ist die Zeit?", so lautet die Antwort: immer künftig, immer kommend, ankommend und darum stets vergehend, d.h. aus der Zukunft als Gegenwart in die Vergangenheit übergehend.

I Einleitung: Von den Voraussetzungen des Fragens

Fragen von grundsätzlicher philosophischer Relevanz haben es an sich, spontan eine gewisse Verlegenheit auszulösen, dies um so mehr, je größer der Spielraum ist, den sie einer möglichen Antwort eröffnen. Die Verlegenheit rührt in der Regel daher, daß man instinktiv spürt, daß solche Fragen letztlich nicht befriedigend zu beantworten sind, und daß es sinnlos ist, den unzähligen gescheiterten Versuchen - der Blick schweift über die entsprechende Bücherwand - einen weiteren hinzuzufügen. Wenn die Frage jedoch nicht zu der Kategorie prinzipiell unentscheidbarer Sinnfragen gehört, empfiehlt es sich, die Gründe für die anfängliche Ratlosigkeit unterhalb der leitmotivischen Bedeutungsfelder, nämlich in der Struktur der Fragestellung selbst zu suchen. Diese erscheint hier nicht nach den üblichen Regeln der Syntax formuliert, die auch für Fragen die Satzform vorschreiben, sie wurde - ein erster Vorgriff und Hinweis auf das Thema - von dieser Vorschrift "befreit". Sich dessen zu vergewissern, was diesem Befreiungsakt zum Opfer fallen mußte und warum, mag daher - als Rekonstruktion - gleichsam einen Schritt zurück, zu den Implikationen dieser elliptischen Vorgabe führen; diese Vergegenwärtigung wird jedoch zugleich - als Projektion - den Rahmen des Entwurfs freilegen, innerhalb dessen eine Antwort versucht werden soll.

Der grammatikalische Befund ergibt zwei Halbsätze, bestehend jeweils aus einem Akkusativ- und einem Dativobjekt, verbunden je durch einen Infinitiv und eine Geste, der Gedankenfigur der Frage. Das Subjekt fehlt ganz, das Prädikat gibt weder Tempus noch Modus an, einzig die Präposition stiftet einen Zusammenhang zwischen den beiden Objekten: sie suggeriert ein Kontinuum zwischen Vergangenheit und Zukunft, das die infinite Verbform zugleich semantisch bestätigt (wären die Zeitmodi nicht aneinander gefesselt, müßte man nicht ihre Befreiung erwägen) und syntaktisch zur Disposition stellt (der reine Infinitiv präjüdiziert in keinster Weise eine mögliche Befreiung). Führt man zur Gegenprobe einen Akteur ein, wird dieser, selbst ein unbestimmter, unweigerlich eine Modalisierung des Infinitivs nach sich ziehen: "soll man befreien?", "kann man?", "muß man?", "will man?". Und wer ist "man"? Hier wäre die nächste Entscheidung fällig: auf welcher Zeitachse soll der Träger dieses Befreiungsprozesses agieren? Auf der individualgeschichtlichen? Der sozialgeschichtlichen? Der gattungsgeschichtlichen? Anders gefragt - und jetzt muß auch die Negation explizit gemacht werden -: welche (wessen) Vergangenheit, welche (wessen) Zukunft befreien - oder nicht? Es zeigt sich, daß jedes weitere Element den Horizont der Problematik radikal verkürzt hätte.

Kehren wir zum Infinitiv zurück: er läßt zwar den Zeitraum offen, in dem die Befreiung sich vollziehen soll, bzw. auf keinen Fall vollziehen darf: ob es sich um einen Wendepunkt oder eine Übergangsperiode, einen kairologischen Augenblick oder einen längeren Prozeß handelt und dementsprechend, ob man sich dieses Geschehen als revolutionären Akt oder als evolutionären Wandel, als transitorischen Zustand oder als abschließbaren Vorgang vorstellen soll. Doch indirekt verrät er den Modus, der einzig als Mittler zwischen Vergangenheit und Zukunft, als befreiendes oder fesselndes Agens in Frage kommt: die Gegenwart. Sie ist das Medium, durch welches - permanent und unter wechselnden Bedingungen - Zukunft in Vergangenheit übergeht und Vergangenes - wie verwandelt auch immer - wiederkehrt, um Künftiges zu ermöglichen oder zu verhindern. Einzig in der Gegenwart wacht jenes Zeitbewußtsein, das uns die Intervalle zum jeweils Bevorstehenden oder gerade Passierten jenachdem gleitend oder synkopisch, als Weg oder als Abstand, kontinuierlich oder fragmentarisch erleben läßt, weil sie selber dieses Gleiten oder diese Synkope, Orgelpunkt oder Pause, Zeitbrücke oder Zeitspalte ist. Das verschwiegene Subjekt der leitenden Ausgangsfrage, das sich selbst nicht in Frage stellt, weil es unausdrücklich die Perspektive vorgibt, die Vergangenheit und Zukunft aufeinander zu beziehen erlaubt, kann demnach nur die extensionale Gegenwart unserer Epoche sein, und zwar in Gestalt eines Jeden, der sich an die Erörterung der in Frage stehenden Beziehung macht.

Eine extensional begriffene Gegenwart läßt sich weder auf das Kontinuum des Pulsschlags noch auf den drei-Sekunden-Takt des Umschlags von Wahrnehmungen in Empfindungen reduzieren. Selbst zwar kein Glied der modalen Sequenz, greift sie vielmehr in dem Maße in Vergangenheit und Zukunft ein, in dem sie ihr Selbstverständnis durch die abwesenden Zeitmodi definiert und aus dieser Abwesenheit die Fülle der jeweiligen Erlebnismöglichkeiten regeneriert. So wie sie sich physisch von dem nährt, was ihr voraus ging - Raum und Gedächtnis, Wissen, Institutionen und Natur - nährt, so zehrt sie metaphysisch von dem, was ihr Anlaß zu Sehnsucht und Hoffnung, Visionen und Entwürfe gibt. Mit dem Zerfall traditionsbildender Instanzen - Religionen, Utopien, berufliche, geschlechtliche und territoriale Identität - droht die Spannung zwischen Erinnerung und Erwartung die Gegenwart heute zum Gefäß sowohl zwanghaft ritualisierten Recyclings als auch obsessiver, mal hysterischer, mal pragmatischer Antizipationen auszuhöhlen. Denselben Sachverhalt kann man aber auch als "Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit" (Alexander Kluge) betrachten: Vergangenheit und Zukunft werden als bloß vergegenwärtigte ihrer unverfügbaren Dimensionen - des Unwiederbringlichen und des Unvorhersehbaren - beraubt, ihre Ungleichzeitigkeit im Namen einer Koexistenz diachroner Erfahrungen und Entwicklungsstufen geleugnet. Es wird zu untersuchen sein, ob diese temporale Hegemonie Kennzeichen einer epochalen Erschöpfung oder gar Menetekel einer Generation ohne Vergangenheit und ohne Zukunft ist.

Nun soll die Gegenwart den Nexus von Zukunft und Vergangenheit auflösen oder zumindest neu bestimmen. "Befreien" aber kann man nur, was zuvor eingesperrt bzw. gefesselt wurde oder - intransitiv - sich in Gefangenschaft befindet: die Zukunft von der Vergangenheit gefesselt (und viceversa)? Oder in der symbiotischen Variante: die Zukunft an die Vergangenheit gefesselt (und viceversa)? Die Aufgabenstellung ist vetrackter als es den Anschein hat, da von einer Komplementarität der beiden Operationen bei näherer Betrachtung keine Rede sein kann. Wenn man fragt, wessen Zukunft oder welche Zukunft von der jeweiligen Vergan-genheit befreit werden soll, so läßt sich die Position des Genitivobjekts mühelos besetzen: die Zukunft der Menschheit, der Geschlechter, der Arbeit, der Technik, etc. Umgekehrt klingt bereits die Frage zynisch: die Vergangenheit der Menschheit von ihrer Zukunft befreien? Wenn wir Vergangenheit als Inbegriff des Wirklichen, weil Faktischen, und Zukunft als Inbegriff des Möglichen, weil Virtuellen definieren, dann tritt die doppelte Paradoxie der Leitfrage vollends zutage, denn wie soll man etwas, das sich als Geschehenes nicht mehr ändern läßt, von etwas befreien (und dadurch verändern), was noch gar nicht eingetreten ist, was also weder die Macht hat, in Bestehendes einzugreifen, noch von uns in irgendeiner Weise beeinflußt werden kann?

Offensichtlich darf die Vergangenheit nicht als abgeschlossen aufgefaßt werden, soll sie eine Zukunft haben und darüberhinaus einer Befreiung von dieser Zukunft überhaupt zugänglich sein. Umgekehrt kann eine von der Vergangenheit gefesselte Zukunft nur eine sein, von der wir wissen, in welcher Form sie auf uns kommen wird, eine, die in gewisser Weise - nämlich imaginär, prognostisch, fiktional - schon längst vergangen ist.

Vergangene Zukunft ist imgrunde verminte Zeit: ihr Feld, ihre Strecke ist mit Minen der Vergangenheit bestückt: mit Utopien, Visionen, Programmen; zielgerecht, abgezweckt, verplant, im Wortsinn terminiert, d.h. beendet. Der gemeinsame Sprengstoff dieser zukunftsmächtigen Begriffe heißt: Teleologie. Daß dieser für die Erörterung der gegenseitigen Konditionierung von Vergangenheit und Zukunft zentrale Begriff unmittelbar aus der Fragestellung selbst hervorgeht, verdeutlicht ein letzter Rekurs auf ihre Grammatik. Konjugierte Verben pflegen Zeitvorstellungen zu artikulieren, indem sie Handlungen bezeichnen. Der Handlungscharakter eines Geschehens bewirkt Veränderungen, und Veränderungen bieten einem wahrnehmenden Bewußtsein den verläßlichsten Index für zeitliche Dauer. Strenggenommen vergeht die Zeit nicht, wenn nichts Gerichtetes geschieht, d.h. wenn nichts geschieht, was Anfang und Ende, Ursache bzw. Absicht und Ziel bzw. Zweck hat, und wofür sich ein Subjekt namhaft machen läßt. Nicht zufällig wird nur Menschen, die sich des Handelns enthalten - Intellektuelle, Melancholiker, Hamlet-Charaktere - die Teleologie ihres Daseins fragwürdig. Indem die Infinitivkonstruktion der Ausgangsfrage die teleologische Verklammerung von Vergangenheit und Zukunft suspendiert, stellt sie deren Neubestimmung ins Zentrum ihrer Problematik.

II Von der Vergangenheit ohne Zukunft und viceversa

Wer etwas macht, ist auf Ergebnisse angewiesen, ja, ohne die Aussicht darauf würde niemand anfangen, etwas zu tun. Ziele sind es, die Aufgaben definieren, Zwecke orientieren die Methode, Absichten lenken endogen den Willen über alle Schwankungen uferlos driftender Subjektivität. Dem Kompaß des Umzu verdanken wir es, allen Fährnissen moderner Ablenkungsdämonie zum Trotz Kurs zu halten auf den einmal gewählten Bestimmungsort. Teleologisch erst erschließt sich uns die ganze unbegrenzte Endlichkeit der Immanenz. Alles auf der Welt soll zu etwas "gut" sein, und schon dieser Ausdruck verrät die Ideologie vom Segen jeder Zwecksetzung. Spätestens mit der ersten Einschulung beginnt für das Menschenkind die gnadenlose Abrichtung seiner kognitiven und imaginativen Potentiale auf Lernziele, die gemäß seiner voraussichtlichen Nützlichkeit für die Gesellschaft definiert werden. De-finiert, also begrenzt, ein-geschlossen, ab-gezweckt, ent-schieden und be- endet wird seine Laufbahn, noch ehe sie begonnen hat. Individuelle Abweichungen von den utilitaristischen Programmen gibt es nicht aufgrund von Erziehung, Bildung und Beruf, sondern trotz alledem. Resultate weisen das Ende eines Produktionsprozesses nach; ohne Erfolg keine Anerkennung, ohne Summe keine Belohnung und vor allem: ohne Abschluß kein Fortkommen. Denn nur "wer da hat, dem wird gegeben." (Mt.13,12). So generiert eine Arbeit die andere. Jede erwartungsgemäß zu Ende gebrachte Tätigkeit gilt als Sieg über den schlimmstmöglichen Verdacht: nichts Bestimmtes zu tun - und also gar nichts -, vielmehr unsere Zeitspanne auf Erden in ereignislosem Einerlei zu vertrödeln, dazu verdammt, 'einfach so', ohne Punkt und Komma weiter-zumachen. Wenn vor diesem Hintergrund jedes Ende mit dem Schein von Erlösung lockt, müssen, so der Gegenverdacht, Ambitionen etwas mit Todessehnsucht zu tun haben.

Es stimmt zwar: "In der Lebenswelt ... konzentrieren wir uns nicht so sehr auf die letzten, als auf die vorletzten Dinge."[1] Aber alle vorletzten Dinge sind für das auf sie gerichtete Streben vorerst letzte; und wir wissen nie, ob wir an ihnen den Stein und den Schatten der allerletzten abtragen, oder ob wir nicht die einen durch die anderen verdrängen, indem wir diese behandeln, als ob sie jene wären. So könnte jedes kleine Finale eine Übung in den Ernstfall des großen sein, hilfreich, ein Stück Angst davor aufzuzehren und so das Ende beizeiten zu defatalisieren. Wäre nicht jedes erreichte Ziel Ausgangspunkt für ein nächstes, jeder erfüllte Zweck Mittel für einen weiteren, und bliebe nicht von jedem Abgeschlossenen kaum mehr als eine in den Grund unserer Existenz gespießte Fahne, auf daß der besorgte Rückblick sich jederzeit der bereits zurückgelegten Strecke als eines unverlierbar archivierten Identitätspartikels vergewissern könne. Teleologie oder die Angst, sich im Kreise zu drehen, die den Teufelskreis des Immergleichen anheizt; die Angst, auf der Stelle zu treten, die jedes Neuland ins altbekannte verwandelt; die Angst vor Wiederholung, die keine Differenz zuläßt.

Alles Tun scheint den Spannungsbogen lebensgeschichtlicher Ökonomie zu wiederholen, und die Affinität von Zweck, Ende und Ziel (die schon im griechischen 'telos' vorgezeichnet ist) vermag nur in siegreich absolvierten Etappen jenes Dunkle aufzuhellen, von dem sie sich herleitet, und dessen allgegenwärtiger Stellvertreter sie ist. Ein Mißerfolg, eine Krise, der Aufschub einer Erfüllung, irgendeine Erschütterung des Machbarkeitsglaubens genügen - ebenso wie enttäuschte Erwartungen -, um die Angst vor dem Unverfügbaren zu entfesseln und die Suche, je nach Zivilisationsstand (aber es handelt sich um zwei Wirkungsgrade derselben Kultur) entweder nach Sündenböcken oder nach letzten Werten in Gang zu setzen. Die existenziell unverzichtbare Dimension des Machens ist offenbar die, daß man ohne Vorhaben sich einem übermächtigen anonymen Schicksal ausgeliefert sieht.

Gerne stimmte man Peter Sloterdijk zu: "Nur ein relativer Sinnverzicht macht Individuen dazu frei, ihrem Dasein eine welt- und lebensgemäße Wendung zu geben, während das Beharren auf strenge Sinnforderungen das Leben todestriebhaft überspannt." [2] Allein, solange die teleologische Daseinsorganisation sich als Sinnsurrogat anbietet, solange die Individuen ihre Lebensenergien in der rastlosen Aufeinanderfolge von Terminen und Stationen, im go-and-stop der sich stauenden Verpflichtungen verheizen: solange wird noch die bescheidenste Sinnsuche in den Ritzen und Pausen dieses Systems angesichts des bedrohlich sich aufdrängenden provisorischen Charakters aller Existenz im Zeichen von Geschäftigkeit dem Sog der Endgültigkeitsfragen erliegen. Mit ihnen aber wird das Terrain des sinnlosen Treibens allenfalls abstrakt überbaut, keineswegs jedoch verlassen; denn unterm gesellschaftlichen Leistungszwang tauchen Probleme und Aufgaben nur auf, um 'erledigt', und das heißt: endgültig gelöst zu werden. Das Endlösungsdenken ist nicht nur die profane Essenz christlicher Erlösungsphantasmen; es ist die herrschende Logik aller Praxis: wer nicht fertig wird, kommt nicht weiter; ohne Schlußstrich kein Neuanfang; ohne Weltuntergang kein Gottesreich. "Der Revolutionär glaubt, daß die Umwälzung, die er vorbereitet, die letzte sein wird; genauso denken wir alle in unseren Tätigkeitsbereichen: das Letzte ist die Zwangsvorstellung, die den Lebenden verfolgt." [3] In ihrem Zeichen ist alles Dasein seit dem Siegeszug der jüdisch-christlichen Zivilisation auf Flucht und Exodus, Zukunftszugewandtheit und Gegenwartsverzicht gegründet.

Was Heiner Müller von der Utopie sagt, daß sie "vom Menschen immer Opfer und Verzicht (verlangt) ... und die Gegenwart zugunsten einer Fiktion von Zukunft (entwertet)" [4], muß demnach jeder teleologischen Instrumentalisierung von Lebenszeit unterstellt werden. Denn am Prinzip, für ihren - inkommensurablen - Einsatz (und also Verlust), post festum Gratifikationen anzubieten (und anzunehmen), statt in der Tätigkeit selbst das Medium der Erfüllung zu suchen und zu organisieren, ändert es nichts, ob die Zukunft mit ideellen oder mit materiellen Werten lockt. Ohnehin wird im Kapitalismus dieser Unterschied bedeutungslos, weil die Frage nach dem Sinn des Lebens, - das dem Warum von Anfang an innewohnende Wozu - nunmehr ihren profanen Utilitarismus offenbart. Die Frage nach dem Wozu ist bereits der Zweifel an der Evidenz des Seins in der Gegenwart, den die zur Auskunft reduzierte Zukunft beschwichtigen soll. Und auch dieses Modell findet man zuerst in der prophetischen Rhetorik, die beides setzt: die Frage und die Antwort, die reale Leere und die imaginäre Fülle, das reale Leiden und den imaginären Trost. Das Gesetz und die Sünde - wie Paulus ungeniert zugibt (Röm. 3,20; 5,13; 7,7-8).

Nur darum konnte das System zweckgerichteter Lebenszurüstung zum verinnerlichten transzendentalen Kontrolleur praktisch aller das Handeln und Befinden der Subjekte steuernden - bewußten wie unbewußten - Motivationen werden. Der Möglichkeit ihrer ubiquitären Umsetzung weit über den Reproduktionsbereich hinaus ist die Freizeitindustrie zu verdanken ebenso wie ein totalitäres Krisenmanagement, das selbst schicksalhaften Einbrüchen ins Dasein ihre irreduzible Aleatorik und verstörende Intensität nimmt. Teleologie oder die Unfähigkeit, dem Dasein einen unschuldigen Sinn abzugewinnen, einen, der nicht "jedes So-und-so-sein auf Willen, auf Absichten, auf Akte der Verantwortlichkeit zurückführte."[5] Nichts darf sein, was es ist; nichts darf um seiner selbst willen getan werden; von nichts ist die Menschheit so weit entfernt wie von dem elementaren, einzig die Fülle der Zeit und das Glück des Daseins verbürgenden ergo sum: ich schreibe gegen diese Perversion an (das tue ich sowieso und nicht, um das Preisgeld eines Wettbewerbs zu gewinnen) - also bin ich.

Solange jedoch das jeweils gerade Gelebte nicht positiv erfahren werden kann, wird der vorherrschende Existenzmodus in der Zeit die Flucht sein: auf das Kommende zu (damit es nicht kommt), und vom Gegenwärtigen weg (damit es nicht anwest). Das Leiden an Ziellosigkeit wiederum, sobald die Zukunft nicht finalisiert (bzw. an Identitätsschwund, sobald die Vergangenheit genealogisch in Frage gestellt) wird, zeugt nicht primär für die Notwendigkeit von Zielen (bzw. von Traditionen), sondern von Entzugserscheinungen eines Suchtverhaltens. Emphatisch kann die Frage nach der Zukunft indes nur eine nach dem auf mich Zukommenden sein; nicht eine nach den Zielen, mit denen ich den zeitlichen Horizont bestücke, um letztlich bloß einzuholen, was ich vorausgesetzt habe. "Die Vorwegnahme der Zukunft, das Entwerfen der Zukunft... sind nur die Gegenwart der Zukunft und nicht die authentische Zukunft; die Zukunft ist das, was nicht ergriffen wird, was uns überfällt und sich unser bemächtigt."[6]

Paradoxerweise ist die beschriebene Depotenzierung der Zukunft, eben jenem abendländischen Futurozentrismus geschuldet, dessen Herkunft aus der eschatologischen Horizontbesetzung des jüdisch-christlichen Weltbildes seit den Arbeiten von Löwith und Blumenberg hinlänglich erwiesen ist.[7]

Insofern Zukunft, Inbegriff des Offenen und Reservat des Möglichen, zum Spekulationsobjekt planender Vernunft und antizipatorischer Phantasie verkommen ist[8], läßt sich der erste Teil der Frage nunmehr dahingehend präzisieren: kann (soll) man die Vergangenheit von ihren Zukunftsfixierungen befreien? Und von welchen? Von pragmatischen Versicherungen gegen unvermeidliche Lebensrisiken? Das System der Daseinsvorsorge ist zwar - besonders im deutsch-angelsächsischen Kulturraum - selbst Symptom einer höchst problematischen Mentalitätsgeschichte; aber als Kernstück einer vertraglichen Vernetzung von Staat und Gesellschaft bzw. der Generationen untereinander erfüllt es, paradox gesprochen, Aufgaben einer jeweils künftig ausstehenden Selbsterhaltung, und das bei relativ geringen Gegenwartsopfern. Anders steht es um die phantasmatischen Zukunftsbesetzungen: sie gehören zwar zur anthropologischen Grundausstattung des "Tiers, das etwas vor sich hat"[9]; seitdem sie jedoch über Medien zu ihrer Objektivierung verfügen - also seit der Erfindung der Schrift zu Beginn der Hochkulturen -, hat sich ihr Wunschpotential in einen fatalen Mechanismus der Weltüberwindung verkehrt. Die Verkennung des imaginativen Überschusses unserer Phantasie (gegenüber der Realität) als Handlungsanweisung steht nicht nur am Ursprung allen Leidens an der Inkongruenz von Ich und Welt, von individuellen Ansprüchen und objektiven Realisierungschancen; sie dürfte darüberhinaus auch der verborgene psychodynamische Motor für die teleologische Umformatierung von Hoffnungen und Erwartungen, Visionen, Prophetien und Utopien in Absichten, Plänen, Lehren und Projekten sein, die den Gehalt des ursprünglich Erträumten mit unerbittlicher Zwangsläufigkeit stets in sein Gegenteil verkehrt haben.

Doch der Mechanismus dieser verhängnisvollen Zukunftsfixierung gehört selbst der Vergangenheit an, und das in dreifacher Hinsicht: zum einen, weil er sich unter dem Eindruck der Zivilisationskatastrophen des 20. Jahrhunderts, aber auch der Globalisierung des Bewußtseins aufzulösen beginnt (darüber später mehr); zum zweiten, weil seine Zeugnisse einen beträchtlichen Teil unseres kulturellen Erbes, auch unserer psychohistorischen Hypotheken darstellen; drittens aber und entscheidend, weil das Überschreiten der Realität durch die Einbildungskraft und seine Verkennung im Sinne eines Umsetzungsimperativs, weil also der Zwang, das Mögliche für machbar zu erachten, seinerseits genetisch auf ein Grunddilemma im Selbsterhaltungsdispositiv selbst zurückgeht. Dieses besagt, daß eine Minute des Schreckens oder Leidens eine tiefere Spur im Gedächtnis hinterläßt als ein Jahr des Glücks oder der Zufriedenheit. Nur Schocks, Traumata, exzessive oder chronische Schmerzen schreiben sich dem Körper ein, hinterlassen eine unauslöschliche Markierung. Die vernarbte Wunde scheint das Modell jedes Erinnerungsmals zu sein. Ob man nun hieraus generell eine negative Konditionierung unseres Weltbezugs und insbesondere unserer produktiven Impulse ableitet oder mit Dietmar Kamper annimmt, daß Phantasietätigkeit als solche sich "aus dem Zwang ergibt, ein Trauma, das unerträglich ist, mit einem Phantasma zu heilen"[10] - immer trägt die freigesetzte schöpferische Energie Züge eines Wiederholungszwangs.

Sein ganzes Selbstzerstörungspotential entfaltet dieses Dispositiv allerdings erst in der Moderne, gleichsam als hysterische Kompensation einer entfesselten Fortschrittsdynamik, die den Einzelnen in eine nie zuvor dagewesene Freiheit von den Nöten der Selbsterhaltung entließ. Nicht zufällig steht die romantische Entgrenzung des Wünschens am Anfang des modernen Futurismus, der im 20. Jahrhundert der Zwang zur Umsetzung, 'Realisierung' all dessen folgen sollte, was seit Menschengedenken in den Köpfen gespukt hatte. Pathetisch feiert die Romantik das Streben ins Unendliche, die unstillbare Sehnsucht, das Werden: darin nimmt sie die Zukunftsunrast der demiurgischen Moderne vorweg, wenn auch ihre beiden Pole - der manische des Projektemachers und der depressive des Träumers - hier noch ungeschieden erscheinen. Der Maßlosigkeit der Imagination entsprach die einsetzende Hypertrophierung des kulturellen Gedächtnisses, das von der Antike bis zum Sanskrit, vom Mittelalter bis Shakespeare, vom spanischen Barock bis zum Volksliedgut die mebra disjecta einer Vergangenheit einzusammeln begann, die erst im 19. Jahrhundert zur Fiktion der einen kontinuierlichen Geschichte synthetisiert werden sollte. Formuliert man vor diesen Hintergrund die Leitfrage kulturanthropologisch um - das Gedächtnis von der Imagination befreien? die Imagination vom Gedächtnis befreien? - werden plötzlich die beiden konkurrierenden ästhetischen Strömungen des 20. Jahrhunderts deutlich: die restaurativ- historistische und die avantgardistisch-zukunftsgläubige.

Unter diesen Voraussetzungen läßt sich nicht mehr streng unterscheiden, ob die Befreiung, die hier Not tut, eine der Vergangenheit von der Zukunft ist oder umgekehrt. Es spricht alles dafür, daß es der ostinate Zukunftsvorlauf der Vergangenheit war, der die Altlasten der Zukunft angehäuft hat; daß jene Vergangenheit, wovon man die Zukunft künftig freihalten müßte, damit es überhaupt eine Zukunft gibt, zugleich dasjenige ist, was in der Vergangenheit - und bis in die Gegenwart hinein - als Zukunft anvisiert, entworfen und programmiert worden ist. Wenn wir nunmehr die Vergangenheit von der Zukunft aus betrachten, ist es also nicht verwunderlich, daß uns dieselben Motive nun gleichsam im fossilen Aggregatzustand überholter historischer Optionen begegnen. Das gilt für das Fortschritts- und Wachstumsdenken nicht weniger als für die Kahlschlag-Lösungen revolutionärer Programme: für apokalyptische, gnostische, nihilistische Endlösungsphantasien, für Sätze wie "Daß es so weitergeht, ist die Katastrophe." (Benjamin).

Das bedeutet nicht, daß sich die Gegenstände der Befreiung indifferent zur jeweiligen temporalen Perspektive verhielten. Nehmen wir exemplarisch die bevorstehende Jahrtausendwende: unter beiden Gesichtspunkten wäre nichts dringlicher geboten, als uns endlich sämtlicher chiliastischen und millenaristischen Kalender-Suggestionen samt ihrer Aufforderungen zur kollektiven Psychose zu entledigen. Im Sinne einer Befreiung der Vergangenheit von der Zukunft wäre dies gelungen, wenn wir das ominöse Datum als ein ganz gewöhnliches Jahr beginnen und durchleben würden. Das Postulat einer Befreiung der Zukunft von der Vergangenheit würde umgekehrt dazu auffordern, das Jahr 2000 als Stunde Null zu begreifen. Beide Optionen können sich darauf berufen, daß Traumata sich ebensowenig vererben lassen wie persönliche Erfahrungen und daß jeder Mensch auch als historisches Wesen wieder bei Null anfängt. Für die erste Haltung bedeutet dies, daß er ungeachtet des verfügbaren Wissens aller voraufgegangenen Generationen die Wahrscheinlichkeit auf seiner Seite hat, wieder alles falsch zu machen (daher die Empfehlung: größtmögliche Nichtbeachtung des Ereignis'). Mit gleichem Recht kann die zweite dagegen halten, daß man jedem Neuankömmling zugestehen muß, unbelastet von den Fehlern der Vergangenheit alles neu und anders zu machen (daher die Aufforderung: mit größtmöglicher Euphorie in die Startlöcher). Beiden Optionen gemeinsam ist die Als-Ob-Haltung: entweder wir blicken uns vorsichtig um und tun - aus Erfahrung klug geworden - so, als ob nichts besonderes auf uns zukommt; oder wir riskieren etwas und tun - stramm nach vorne blickend - so, als ob alles Gewesene nichts mehr zähle. Man muß kein Prophet sein, um vorhersagen zu können, daß die Durchstarter ihr Versprechen nicht werden halten können.

Gerade wer einen panischen, bislang noch hysterischen Adventismus zu entschärfen versucht, muß bei etwaigen Befreiungsmanövern mit ambivalenten Wirkungen rechnen, mit Entlastungen von Zwängen, Ansprüchen oder Hypotheken etwa, die zur Mobilisierung des zuvor noch Gebändigten ebenso führen können wie zur Gelassenheit des nicht mehr Getriebenen. Das gilt insbesondere für die von Michel Surya zu Recht angemahnte Entschlackung einer hypertrophen Gedächtniskultur, die mehr intellektuelle Energien für die Durcharbeitung der Vergangenheit aufzehrt als sich die Gegenwart angesichts ihres Problemlösungsbedarfs leisten kann. Auch in diesem Punkt möchte ich dafür plädieren, sich vor allem von habituellen Deutungsmustern und den entsprechenden Haltungen zu befreien. Wenn es gelänge, sich von der Illusion freizumachen, man könnte aus den Fehlern der Vergangenheit lernen, fiele ein Teil des in die Gegenwart hinein ragenden Kanons unbewältigter Aufgaben wie nutzloser Ballast von selbst ab. Es gibt keinen Anhaltspunkt dafür, daß Subjekte über ein sensibles Organ für Erfahrungen verfügten, die sie selbst nicht gemacht haben, über ein Gedächtnis also, das gleichsam über Räume und Zeiten und Generationen hinweg fremde Erlebnisse und Schicksale sich anverwandelt als wären es seine eigenen. Denn erinnern läßt sich strenggenommen nur, was einst Gegenwart für den eigenen Körper war und sich in ihm eingeschrieben hat. Damit kommt dem Satz, daß Geschichte, die nicht erinnert wird, dazu verurteilt ist, sich zu wiederholen, die Dignität eines Wunderglaubens zu.

Die Zurückweisung eines apotropäischen Sinns von Vergangenheitsbeschwörung tangiert allerdings nicht jene Dialektik des kulturellen Recyclings, die Jean Baudrillard dahingehend zugespitzt hat, daß "ein wahrhaft schlechtes Gewissen die Gattung in dem Moment zur Wiederbe-lebung ihrer gesamten Vergangenheit treibt, in dem sie den Faden der Erinnerung verliert. Alle Überreste, alle Spuren, die insgeheim begraben wurden und eben deshalb Bestandteil unseres symbolischen Kapitals waren, werden exhumiert und zu neuem Leben erweckt... Nichts verschwindet, nichts darf verschwinden: das ist die Formel dieser neuen Therapiebesessenheit, der mnestischen und archäologischen Besessenheit."[11] Baudrillard hat selbst hinzugefügt, der Archivierungswahn sei symptomatisch für die Erwartung einer Zukunft, die dessen, was archiviert wird, dringend bedarf, weil sie es aus sich heraus nicht wird entwickeln können. Und in der Tat scheint eine doppelte Verlustangst darin zum Ausdruck zu kommen: die, daß der Selektions- und Optimierungsdruck der durchkapitalisierten Welt mehr an Vergangenheit, und d.h. an Quellen möglicher Sinnstiftung und geistiger Regeneration liquidieren könnte, als ein von permanenter Informationsüberflutung und elektronischen Substituten geschwächtes Gedächtnis zu erhalten, integrieren und weiter zu vermitteln imstande wäre. Und die, daß die Modernisierungsunrast des Fortschritts und die Katastrophen des 20. Jahrhunderts bereits mehr an tragender historischer Substanz zerstört haben könnte, als künftige Gesellschaften werden entbehren können. Das anschaulichste Modell hierfür bietet die Einrichtung von Gen- und Samenbanken für bedrohte oder aussterbende Arten an: es geht um die Rettung und Verfügbarmachung von Ressourcen für eine ungewisse Zukunft, von der man nur eines sicher erwartet: die Verarmung der Biodiversität.

Damit kommt eine tiefenzeitliche Dimension von Vergangenheit ins Spiel, deren Entwicklungsgeschichte sich in jedem Individuum, das auf die Welt kommt, wiederholt und dieses vor die Aufgabe stellt, Lebenszeit und Weltzeit aus Neue zu synchronisieren. Gern wird verdrängt, daß die Gattung Teil einer natürlichen Evolution ist, die in jedem unserer Atemzüge ungleich lebendiger präsent ist als alle in Wissensdepots und Artefakten geronnene Kulturgeschichte. Die Vision einer Befreiung vom Körper, die uns heute als praktisch einzige neue Botschaft der Cyberkultur angebote wird, ist dabei so alt wie die Menschheit selbst. Gegen ihre rhetorischen Delirien allerdings, die androide bzw. androgyne Mutanten halluzinieren, wo stinknormale Menschen an Drähten zappeln bzw. jeglicher Sinneslust entsagen, muß daran erinnert werden, daß die Natur mehr ist als das physiologische Substrat intelligibler Wesen. Als das Nichtmenschliche und Ungeschaffene ist sie das jedem Bewußtsein Transzendente, Quelle von Alterität und unerschöpfliches Reservoir an Unverfügbaren. Ihre andere, zyklische Zeit ist das einzige retardierende Moment, das dem linearen Zug der Neuzeit Reibungsverluste und Besinnungspausen abverlangt, als Synkope oder Hiatus in den vorwärtsgerichteten Gleichlauf einbricht und doch zugleich als Kontinuitätsgarant und stabiliserendes Agens der zentrifugalen Betriebsamkeit des teleopathischen Charakters entgegenwirkt.

III Vom Angriff der Gegenwart auf die übrige Zeit (und viceversa)

Nach all dem erscheint es paradoxerweise einfacher, die Vergangenheit von der Zukunft zu befreien als umgekehrt. Das ziel-, zweck- und endfocussierte System zur Organisation der Daseinsbewältigung außer Kraft zu setzen und damit sich von der Suggestion frei zu machen, die Zukunft hätte Hypotheken, Programme oder Vorgaben aus der Vergangenheit einzulösen, bzw. es hätte die Vergangenheit auch unserer künftigen Entwicklung Richtung, Sinn und Ziel vorgegeben: diese therapeutische Intention gewinnt ihre Notwendigkeit (und ihre Plausibilität) daraus, daß der in den Zukunftsbesetzungen der Vergangenheit aktive Mechanismus derselbe ist, der - ideologisch abgerüstet und pragmatisch travestiert - heute in der allgemeinen Ratlosigkeit, um nicht zu sagen dem Horror vacui angesichts der Zukunft am Werk ist. Das liegt daran, daß das teleologische Dispositiv den Zeithorizont sowohl existentiell- psychodynamischer, auf Kurzzeitoptimierung bedachter Entwürfe als auch langfristiger soziökonomischer Planungs- und politischer Lenkungsrichtlinien strukturiert, mithin also die gemeinsame Funktionslogik von Individuum und Gesellschaft, von Lebenslauf und Weltlauf bezeichnet. Mit dem Temporaladverb "heute" ist zugleich die bislang vernachlässigte Dimension ins Spiel gekommen, in der sich das Schicksal von Vergangenheit und Zukunft entscheidet: die Gegenwart.

Vergangenheit und Zukunft, soviel dürfte klar geworden sein, entfalten ihre devitalisierende Macht - als Wiederholungszwang bzw. Abschreckungspotential - nur in de Maße, da sie in den Sog einer Gegenwart geraten, deren Akteure sich als unfähig erweisen, ihren transitorischen, fließenden und metabolischen Charakter zu bejahen und aus dieser Bejahung von Diesseits und Endlichkeit die unverzichtbare metaphysische Nahrung zu saugen. So gesehen muß die Ausgangsfrage dahingehend modifiziert werden, daß eine neue Verhältnisbestimmung von Zukunft und Vergangenheit ohne Befreiung beider von der gefräßigen Gegenwartskrake nicht denkbar ist. Doch um Vergangenheit und Zukunft aus ihrer Verfügungsgewalt zu entlassen, muß die Gegenwart sich zunächst von sich selber befreien.

Seit ihren Anfängen kennt die abendländische Kultur einen Begriff von Gegenwart, der sich radikal von dem skizzierten und heutzutage herrschenden Präsenzvampirismus unterscheidet. Ob als stigmè oder Kairos, nunc oder Jetzt, ob punktförmig oder als Ausdehnung gedacht: die Gegenwart war stets Grenze, Diaphragma zwischen dem Nicht mehr und dem Noch nicht; Moment des Übergangs und der Verwandlung des Noch-Nicht in ein Schon- Vorbei; und zugleich Zeitort des richtigen, des geglückten Augenblicks: Moment einer jenachdem leeren oder erfüllten Stasis, eines Stillstehens und Heraustretens aus dem Kontinuum, einer Übergangszeit, Zwischenzeit oder Pause, in der sich vorübergehend alles fügt und alle Dinge ihren Zusammenhang miteinander und mit der eigenen Existenz offenbaren, um kurz darauf wieder in ihrer schmerzlichen Unvollkommenheit, ihrem Mangel, ihrer Negativität zu enteilen. Hannah Arendt hat daran erinnert, daß jener "Zwischenraum zwischen Vergangenheit und Zukunft, jenes gehemnisvolle und schlüpfrige Jetzt" seit jeher für die Philosophie "der Platz des denkenden Ichs in der Zeit" gewesen ist.[12] Doch für die "Lücke in der Zeit" gilt ebenso, daß sie das Exil aller Formen absentischen Bewußtseins, von Selbstvergessenheit und Langeweile über meditative Versenkung bis zur ekstatischen Weltabwen-dung der Mystiker darstellt. Für eine Befreiung der Gegenwart von sich selbst kommt es demnach darauf an, das unzeitgemäße Recht auf Abwesenheit und Seinlassen, auf "Weltfremdheit" (Sloterdijk) durchsetzen im Sinne eines neuen "anthropologischen Realismus"[13], der sich von der Illusion eines stets weltbezogenen Geistes, eines "Weltgeistes" befreit.

Zustände weltabgewandter "Inexistenz" sind zwar immer solche, in denen die temporale Motorik suspendiert und das transzendentale Kontrollsubjekt beurlaubt ist, sie beschränken sich jedoch nicht auf regenerative oder unproduktive Phasen. In diesem Sinne hat Michael Theunissen etwa den Augenblick des Verweilens als ein Moment von Freiheit beschrieben. Freiheit von der Zeit kann hier heißen: Freiheit von Zeitzwängen, Zeitdruck, Chronologie; vom Strom, Zug oder Sog der Zeit, von der Gewohnheit oder der Konvention, mit der Zeit gehen zu müssen. Nicht mit der Zeit gehen wäre demgegenüber Gelassenheit: sich Zeit nehmen, dem Eigensinn der Idiosynkrasien nachgeben, dem Schweifen der Assoziation freien Lauf lassen. Damit sind nichts weniger als unabdingbare Voraussetzungen jener schöpferischen Produktivität von Kunst und Wissenschaft benannt, der die Hochkulturen verdanken, was sie sind. Die Freiheit, die allererst etwas entstehen, reifen und zur Welt kommen läßt, ist undenkbar ohne den Verzicht auf jedwede Finalisierung ihrer Zeitspielräume; und sie ist das genaue Gegenteil jener Befreiung-durch-Beschleunigung (= Entlast-ung, Abschütteln, Hintersichlassen), die Kritiker der Moderne - von Günter Anders bis Paul Virilio - als Grundzug einer verselbständigten Fortschrittsdynamik ausgemacht haben. Beschleunigung ist immer ein Jagd- oder ein Fluchtreflex, Geschwindigkeit immer Jagd- oder Fluchtgeschwindigkeit und mittlerweile nicht selten beides: Jagd auf die Zukunft, Flucht vor der Vergangenheit und viceversa und in jedem Fall das Gegenteil von Freiheit. Ganz anders das "verweilende Aufgehen": dieses kommt erst dadurch zustande, "daß man sich aus der Zukunft zurücknimmt... In einer Sache aufgehen kann der und nur der, welcher sich um Zukünftiges nicht kümmert und auch seiner vergangenen Leiden nicht gedenkt [14]

Als unerläßliches Agens einer Befreiung der Gegenwart von ihrer lähmenden Selbstenteignung durch die maßlosen Ansprüche von Vergangenheit und Zukunft kommt nunmehr also das Vergessen ins Spiel. Erst das Vergessen des Erlittenen (Scheitern, Enttäuschungen, etc.) ebenso wie des Gewußten, Andressierten setzt die Energien frei, sich dem anderen oder einer Sache hinzugeben; nur wer unterwegs sein Ziel aus den Augen verliert und seine Zweifel ausblendet, taucht in die Immanenz eines schier endlosen Augenblicks ein, die für Glückserfahrungen so charakteristisch ist. Doch was für den Einzelnen unmittelbar einleuchtet, soll - dem herrschenden Konsens einer ritualisierten Zwangsaufklärung zufolge - der kollektiven Selbstverständigung einer Kultur als ganzer (und insbesondere der deutschen) verwehrt bleiben. Die beunruhigende Frage läßt sich indes nicht abweisen: ist eine obsessiv und permanent ihre Vergangenheit vergegenwärti-gende Gesellschaft überhaupt glücksfähig? Nietzsches Antwort ist eindeutig und nach wie vor aktuell: "Es gibt einen Grad von Schlaflosigkeit, von Wiederkäuen, von historischem Sinne, bei dem das Lebendige zu Schaden kommt, und zuletzt zugrunde geht, sei es nun ein Mensch oder ein Volk oder eine Kultur."[15] Ich habe bereits auf die Vergeblichkeit jener Denkfigur aufmerksam gemacht, die einen Kausalnexus zwischen dem Vergessen historischer Tatbestände und ihrer Wiederholbarkeit bzw. dem Erinnern und ihrer Abwendbarkeit behauptet. Nietzsches physiologische Metapher vom Wach-Schlaf-Rhythmus des Bewußtseins muß man wiederum im Kontext der von Sloterdijk vorgeschlagenen Phasenlogik von Weltzuwendung und Weltabwendung. Dieses Modell macht es fortan unmöglich, allein der Erinnerung identitätsstiftende Macht zuzugestehen, bloß weil sie Vergangenheit in den aktuellen Erfahrungskosmos (re-)integriert; ihre Selektionsleistung wird nunmehr als eine von zwei komplementären Prozeßformen derselben Gedächtnisarbeit erkennbar, als die Tagseite desselben Reizschutzes, das unwichtige, unliebsame oder unerträgliche Informationen der Nacht des Vergessens überantwortet, um sich so vor systembedrohlichen Überforderungen zu schützen.

Nun könnte man viele Modalitäten zuständlich erlebter Gegenwart Revue passieren lassen, in denen die teleologische Verzahnung mit den Imperativen von Zukunft und Vergangenheit aufgehoben erscheint; die literarische Phänomenologie des "anderen Zustands" (Robert Musil) glücklicher - erotischer, mystischer, ästhetischer - Selbstvergessenheit füllt ganze Bibliotheken. "Denn das Sein erhält nicht deswegen eine Bedeutung und wird Universum, weil es unter den denkenden Wesen ein Wesen gibt, das Ziele verfolgt und daher wie ein Ich strukturiert ist. Es gibt Verlassenheit, Besessenheit, Verantwortung und Sich, weil sich die Spur des Unendlichen in die Nähe einschreibt, Spur, die mit der Gegenwart kein gemeinsames Maß hat und die arché der Gegenwart in Anarchie verkehrt."[16] Niemand bestreitet, daß fast alle intensiven und existenziell bedeutsamen Erlebniszustände unpersönlich, intransitivisch und objektlos sind. Seltsam nur, daß dieselbe Kultur, die von der Feier genialer Ideen und großer Werke, überwältigender Visionen und furioser Leidenschaften, geheimnisvoller Intuitionen und heroischer Opferbereitschaft lebt, sich nie veranlaßt gesehen hat, die Bedeutung der Teleologie zu relativieren. Mehr noch: je fragwürdiger, ineffizienter und instabiler die finalisierte Daseinsorganisation mittels atavistischer Selbsterhaltungsstrategien (Nahrung-, Schutz- und Partnersuche) wird, desto mehr klammern sich die Menschen an ihr. Soweit die Kulturkritik diesen neuroanthropologischen Leerlauf des einsti-gen Jäger- und Sammlerprogramms überhaupt zur Kenntnis genommen hat, ist sie angesichts der drohenden Entkoppelung von Intention und Identität prompt zur Theologie regrediert: unablässig klagt sie fehlende Zielvorgaben und Sinnangebote gegen Gewaltfaszination und Erlebnishunger ein und ruft nach psychomentalen Vollbeschäftigungsmaßnahmen gegen für das vielbeschworene Vakuum, anstatt einmal Urlaub zu nehmen vom Sekuritätsdenken und - wenigstens im Gedankenexperiment - sich auf die angedeuteten Perspektiven einzulassen, die die modernen Erosionsprozesse eröffnen (ich werde abschließend auf sie zurückkommen). Was sich in diesem konservativen Affekt verkapselt, der sein Heil im Absolutismus von zweck-, sinn- und wertorientierten Steuerungsprinzipien sucht und die komplementären Momente atelisch gelassener Selbstfindung leugnet, kann sich auf eine lange Erfolgsgeschichte berufen, deren Diskurs erst in der Neuzeit dazu übergeht, den skizzierten Zusammenhang von Glück und suspendierter Teleonomie explizit ins Gegenteil zu verkehren, um zugleich ein Leiden an der "inhaltslosen Ewigkeit" der Langeweile zu konstatieren.

Thomas Hobbes stellte bereits Mitte des 17. Jahrhunderts mit eschatologiekritischer Verve fest, "daß die Glückseligkeit dieses Lebens nicht in der zufriedenen Seelenruhe besteht. Denn es gibt kein finis ultimus, d.h. letztes Ziel, oder summum bonum, d.h. höchstes Gut ... Glückseligkeit ist ein ständiges Fortschreiten des Verlangens von einem Gegenstand zu einem anderen, wobei jedoch das Erlangen des einen Gegenstands nur der Weg ist, der zum nächsten Gegenstand führt."[17] Und auch Freud findet kein Drittes zwischen (tödlicher) Ruhe und (lebendiger) Rastlosigkeit, möchte aber diesen "anscheinenden Vervollkommnungstrieb" illusionslos auf die "konservative Natur der Triebe" zurückgeführt wissen, die bei ihrem Versuch, ein "primäres Befriedigungserlebnis" zu wiederholen, zu immer neuen "Ersatz-, Reaktionsbildungen und Sublimierungen" gelangt, "ohne Aussicht, den Prozeß abschließen und das Ziel erreichen zu können."[18] Daß die unersättliche Substitutionsökonomie nicht von einer Verdrängung des "eigentlichen" Triebziels alimentiert wird, sondern von der prinzipiellen Unerfüllbarkeit des Triebes durch die Finalisierung seiner Energie (und die dadurch bedingte Vorläufigkeit des jeweils erreichten Objekts), macht den tragischen Charakter einer geschichtsmächtig gewordenen Selbstverkennung des abendländischen Subjekts aus. Ihr Preis ist ein Mangel an Gravitation und reflexiver Gegenwart, der die Subjekte selbst dann nicht zur Ruhe kommen läßt, wenn sie nichts mehr zu gewärtigen haben.

Schon sehr früh hat Immanuel Kant die Langeweile, genauer, eine als Melancholie der Erfüllung verklärte Angst vor der Untätigkeit als Kehrseite der Überbietungslogik ausgemacht und sie an der Schwelle zum 19. Jahrhundert zur sich abzeichnenden Beschleunigung des modernen Lebens-rhythmus in Beziehung gesetzt: "Sein Leben fühlen, sich vergnügen ist also nichts anders als: sich kontinuierlich getrieben fühlen, aus dem gegenwärtigen Zustande herauszugehen (der also ein eben so oft wiederkehrender Schmerz sein muß). Hieraus erklärt sich auch die drückende, ja ängstliche Beschwerlichkeit der langen Weile, für alle, welche auf ihr Leben und auf die Zeit aufmerksam sind (kultivierte Menschen). Dieser Druck oder Antrieb, jeden Zeitpunkt, darin wir sind, zu verlassen und in den folgenden überzugehen, ist akzelerierend und kann bis zur Entschließung wachsen, seinem Leben ein Ende zu machen, weil der üppige Mensch den Genuß aller Art versucht hat, und keiner für ihn mehr neu ist."[19] Die ungebrochene Gültigkeit dieser Dekadenztheorie der Langeweile als eines luxurierenden Überdrußsymptoms hat niemand treffender illustriert als ein amerikanischer Vulkanologe nach dem größten Vulkanausbruch der letzten 80 Jahre (Pinatubo 1993 auf den Philippinen): "Ich bin jetzt 33 Jahre alt und frage mich, was danach noch kommen soll, ob die Zukunft für mich überhaupt noch eine Steigerung bereit hält."

Daß "ein Ziel" - ganz gleich was für eines - "immer noch ein Sinn (ist)"[20], dieser latente Nihilismus teleotroper Existenzentwürfe, konnte offenbar erst nach dem Scheitern der französischen Revolution gedacht werden. 1869, etwa zeitgleich mit der Kantkritik des jungen Nietzsche[21] veröffentlicht Baudelaire in der Sammlung Le Spleen de Paris das kurze Prosastück Le Galant Tireur (Der galante Schütze): ein Mann wird von seiner Frau ausgelacht, weil er beim Zielschießen auf Puppen daneben trifft. Da stellt er sich vor, daß seine "unausstehliche" Frau die Zielscheibe wäre, schließt die Augen, drückt ab und - "die Puppe ward glatt geköpft." Die Pointe dieser kleinen Parabel über das für den Treffer notwendige (in diesem Falle "galante") quidproquo - real die falsche anstelle der echten, imaginativ die echte anstelle der falschen "Puppe" - liegt in dem eigentlichen Ziel, nämlich Sinn der Übung, wovon gleich zu Beginn des Texts die Rede ist: "tuer le Temps. Tuer ce monstre-là, n'est-ce pas l'occupation la plus ordinaire et la plus légitime de chacun?" Um die Zeit totzuschlagen, ohne sich selbst dabei zu treffen, muß man sich vornehmen, etwas anderes totzuschlagen. Nicht nur gehen alle Zielsetzungen - was paläoanthropologisch unschwer zu belegen wäre - auf solche des Totschlagens und Beutemachens zurück; die Teleologisierung des Daseins erzeugt als ihr Komplement Leerstellen im Zeitablauf, die in metonymischer Verschiebung mit totzuschlagenden Substituten aufgefüllt werden müssen. Das Totschlagen selbst hat keinen anderen Sinn als eben die Verkürzung der Zeit, bzw. die subjektive Beschleunigung ihres Vergehens. Wird die Zeit mit der Verwirklichung von Zielen angefüllt, wird sie im selben Maße von ihnen entleert. Die leere Gegenwart des Nichtstuns (die zur toten, weil vertriebenen Freizeit wird) ist der Reflex einer leeren, in den Dienst künftiger Ziele gestellten Gegenwart des Tuns (die zur toten, weil vertriebenen Arbeitszeit wird).[22] Es ist der heraklitische Aion, jener spielerisch und zwecklos seine Steine hin- und herschiebende Knabe, der hier permanent totgeschlagen wird, ja, das Geheimnis des Älterwerdens (aion=Lebensalter) scheint in eben diesem Abtöten der eigenen Kindheit durch Abzweckung des weiteren Daseins (oder umgekehrt das der ewigen Kindheit im zwecklosen Spiel) zu liegen[23]. Nicht umsonst konvergieren alle Definitionen des Totzuschlagenden im Unnützen, Parasitären: wer oder was kein Ziel in seinem Dasein erkennen läßt oder keinen Zweck erfüllt, hat keinen Sinn, also keinen Wert und somit kein Recht: Tiere, Kinder, Nomaden oder eben - im letzten Jahrhundert jedenfalls noch (und in fast allen außereuropäischen Ländern bis heute) -: Frauen.

Es liegt auf der Hand, daß das Problem der Langeweile, dieser trivialsten Form buchstäblich sinnloser, inhalts- und richtungsloser Zeiterfahrung von zentraler Bedeutung für die Frage ist, ob es künftig gelingen wird, die Automatik zielgerichteter Daseinsvollzüge zu unterbrechen und die zu erwartende Orientierungslosigkeit aufzufangen, ohne in tribalistische Patterns des Zeittotschlagens zurückzufallen. Als Langeweile bezeichnen wir das bewußte Empfinden des Verrinnens von Zeit als Zeit, leer und abstrakt zugleich in der schieren Aufeinanderfolge von Zeitpunkten: "Weil wir unser Dasein in Situationen wie der Langeweile nicht vollziehen, nicht tätig ergreifen, deshalb erstarrt es zu purer Faktizität."[24] Der Drang oder Zwang, etwas zu tun, ist paläoanthropologisch damit zu erklären, daß der Mensch sich eine valenzarme Lebenswelt geschaffen hat, in der die Stimuli einer feindgetönten Umgebung entfallen. Der Mangel an Außenreizen wird als Ereignislosigkeit erfahren, die zur Langeweile führt, die wiederum durch entsprechende Aktivitäten (und auch der Konsum von TV-Thrillern ist - neuroästhetisch gesehen - eine Aktivität) kompensiert werden muß; oder das Subjekt reagiert auf einen Mangel an Widerstand in seiner Umgebung, auf die Grenzenlosigkeit eines horror vacui mit einer enthemmten Produktivität, insbesondere einer hypertrophierten Imagination, deren Projektbezug gleichbedeutend mit Zukunftsfixierung und Gegenwartsentzug ist. "Bei einer Reihe von Menschen, und zwar nicht nur bei jüngeren, dürfte das Unbehagen in unserer Welt u.a. auch mit der Langeweile zusammenhängen. Die Zivilisations-Langeweile ist das Resultat eines ungelebten Daseins, für das dieses Subjekt Erlebnisbereitschaften in sich trägt." [25] Bereits 1965 erkannte Rudolf Bilz die "psychohygienische Bedeutung" von Sport und Fernsehen als zwei Medien zur Simulation archaischer (Re-)Aktionsmuster, die sich gegenüber den Rationalisierungen unserer Prothesenkultur als resistent erwiesen haben.

Phylogenetische Latenzen halten den Menschen im Bann unspezifischer Handlungsimpulse - le besoin de faire quelque chose - auf etwas gerichtet, das sich gegenständlich nicht zu konkretisieren braucht. Die Neurowissenschaftler bestätigen, daß die meisten Neurone an Prozesse aktiver Suche beteiligt sind, mit dem Ergebnis, daß "das mentale Funktionieren ohne Vorstellung des Ziels nicht darstellbar ist, das heißt ohne ein Subjekt, das versucht, sich selbst und das erwartete Ziel sich vorzustellen."[26]

Und doch ergibt sich selbst aus diesem Befund keine operationale Zwangsläufigkeit, denn es bleibt die Frage offen, ob die manische Reduktion von Ungewißheit, Kontingenz und Zukunft nicht allererst die Angst davor erzeugt, die ihrerseits das Bedürfnis nach dauernder projektiver Stabilisierung wachhält. Fest steht, daß die Ausrichtung nach dem noch Ausstehenden alles Mit-Gegenwärtige ausschaltet. Was Workoholiker in extremis vorführen - wie man sich der alltäglichen Verstrickungen von Liebe, Familie oder Freundschaft, aber auch des eigenen Körpers entledigt (bis hin zu den freigesetzten Adrenalin- und Kortisonschüben, die selbst Krankheiten und Schmerzen vergessen machen) - gilt für ergonomische Prozesse generell.[27]

Damit schrumpft die zuvor behauptete Differenz zu den transfinalen Erlebniszuständen nur scheinbar. Denn die Streß-Ekstasen des Arbeitstiers sind eine - vergleichsweise harmlose - pathologische Kompensation jener fortschrittsbedingten Entlastungen, die ihn für die ungeschützte Wahrnehmung des Skandalons seiner Existenz, seiner Endlichkeit, immer anfälliger gemacht haben. Daß Stillstand, Nichtstun oder Leere panisch vermieden oder so schnell wie möglich überbrückt werden, hängt mit einer paradoxen Haltung zum Tod zusammen. Einerseits erlaubt jedes Vorhaben mit der Setzung eines Fluchtpunkts in der Zukunft der Erfahrung der Vergänglichkeit zu entrinnen; den Tod zwar nicht aufzuschieben - denn man weiß ja nicht, wann es soweit wäre -, aber doch außerhalb des Horizonts des Möglichen zu halten: solange ich etwas vorhabe, kann ich nicht sterben, jedenfals nicht, solange es nicht abgeschlossen ist. Der selbst gesetzte Termin ersetzt jenen anderen, auf den ich keinen Einfluß habe. Diese Autosuggestion funktioniert ganz gut, wie sich ex negativo am schnellen Verfall mit hoher Todesrate kurz nach Beginn des Rentendaseins zeigt. In Nervenkliniken werden nicht zufällig bei bipolaren Störungen (manisch-depressive Zustände) Beschäftigungstherapien eingesetzt. "Was mich vor dem Selbstmord gerettet hat, war der jeweils nächste Termin für die nächste Aufgabe; das nächste Abendessen, die nächste Visite, das nächste Gespräch", lautet das Standardprotokoll solcher Patienten. Erwartung ist immer zugleich Hoffnung, ist vorweggenommene Rettung: das ist die Logik, nein keiner religiösen Sinnfindung, sondern eines "biologischen Radikals": wenn man Ratten in einen Wasserzylinder wirft, so ertrinken sie nach kurzer Zeit, aber nicht aus Erschöpfung, sondern weil ihr vagotonisches System angesichts der Ausweglosigkeit aufgibt; Exemplare, denen man rechtzeitig einen Holzsteg zur Rettung anbietet und später wieder ins Wasser wirft, halten bis zu 80 Stunden schwimmend durch, ehe sie erschöpft ertrinken: sie rechnen sich Chancen auf Rettung aus, sie haben (begründete) Hoffnungen, zu überleben![28]

IV Von Reibungsgewinnen und Motivationsverlusten

Kehren wir zur Ausgangsfrage zurück. Die "unbewältigte Vergangenheit des Menschengeschlechts" (Bilz) - so das Fazit der Überlegungen - wird sich für die Frage nach dem spezifischen Gewicht/Gepäck der Zukunft und ihre Fluchtgeschwindigkeit als von entscheidenderer Bedeutung erweisen als die historischen Hypotheken des 20. Jahrhunderts oder die technoiden Mätzchen des 21.. Daß die Geschichte insbesondere der ersten Jahrhunderthälfte immer obsessiver die Gegenwart heimsucht und einen guten Teil der Intelligenz in Atem hält, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß mit ihrer Kontinuität überall dort bereits gebrochen wird, wo der Einzelne sich nicht mehr durch nationale, ideologische, religiöse oder parteipolitische Zugehörigkeiten definiert. Mindestens für einen Großteil der Europäer und Nordamerikaner zeichnet sich immer mehr das Bild einer Identität ab, deren Elemente älter und stabiler sind als die Blockbuster der Nationalstaatperiode (Rasse, Volk, Vaterland), weil sie den konkreten Erfahrungshorizont der Individuen markieren: Geschlecht, Beruf und Idiolekt, Gesundheit und Alter, Familie, Freunde, Interessen und Neigungen.

Die massenhafte Individualisierung der Subjekte hat heute schon zur Folge, daß die Visionen, Träume und Utopien der Einzelnen gar nicht oder nur im kleinsten (im Partisanen-) Maßstab übertragbar sind. Senso stricto wird es darum nur eine gemeinsame Vergangenheit (der verlorenen Illusionen und gescheiterten Planspiele), aber keine gemeinsame Zukunft mehr geben. Die Chancen stehen demnach gut, den "Möglichkeitssinn" (Musil) in Zukunft auch außerhalb der Kunst endlich vom Machbarkeitskalkül abzulösen und so die asozialen Wunschenergien spielerisch zu entschärfen.

Die Zeit von "ihrem", d.h. unserem teleologischen Korsett zu befreien - der "beschränkten Ökonomie" (Bataille) ihrer Funktionalisierung -, ist vielleicht die einzige Form von "Befreiung", derer wir mächtig sein können und müssen, soll sie nicht ihrerseits uns von allen Mitteln befreien, ihre Konsequenzen zeitig abzufedern. So werden die Bildungsanstalten der Zukunft einer Verwilderung der Jugend nicht dadurch entgegenwirken können, daß sie ihr Fitnesstraining für den Konkurrenzkampf immer strenger durchrationalisieren; sondern nur, indem sie die kognitiv zwar frühreifen, ansonsten aber vergleichsweise unstrukturierten Daueradoleszenten auf eine Daseinsbewältigung ohne Lebensplanung, gesicherte Erwerbsarbeit, Erfolgsprämien für hartgesottenes Durchmarschieren, usw. vorbereiten. Die ethischen und existentiellen Verstörungen, die Richard Sennet als Folge ökonomischer Deregulierung registriert[29] würden dann Symptome eines Übergangs bleiben. Die Relativierung der Bedeutung und des Wertes der Arbeit selbst für den Einzelnen wird darüberhinaus auch von den sich ändernden subjektiven Voraussetzungen vorangetrieben, etwa dadurch daß der Nexus zwischen ödipalem Geltungsstreben und teleologischer Effizienz sich aufzulösen beginnt. Die Metanoia ist im Gange und sie wird den harthörigen Nachwuchsverwaltungen über kurz oder lang jede Legitimation entziehen: allenthalben Antriebsschwächen, nachlassende Zielstrebigkeit, der hedonistische Kult des Augenblicks, die gesteigerte Sensibilität gegenüber dem Eigensinn des Körpers, die abbrechenden, versandenden oder innehaltenen Karriere-Getriebe; das wachsende Mißtrauen gegenüber Finalitäten jeder Art; selbst in Deutschland weicht der Tugendkanon des protestantischen Arbeitsethos (Pünktlichkeit, Disziplin, Perfektionismus, Aufschubs-, Opfer- und Verzichtbereitschaft, usf.) auf.

Das sind erste Indizien für den Abbau intentionaler Überschüsse, für die Abrüstung von Übermotivierungen, an denen die Protagonisten der Wachstumsära krank und kalt geworden sind. Was hier noch zaghaft eingeübt wird, sind die ersten Gehversuche eines Charaktertypus, der sich nicht mehr genötigt fühlt, seine Existenz ausschließlich an den Wirkungen seines Tuns zu beweisen; der nicht unablässig etwas machen muß, um den Kontakt zum Sein nicht zu verlieren; dessen Freiheit nicht davon abhängt, in jeder Tätigkeit die Einheit von Wille und Handlung zu beglaubigen; dessen Tun also immer zugleich ein Geschehenlassen wäre - aber nicht im Sinne von Passivität, sondern des taoistischen Wu-wei, des Nicht-Zwingen - und das seine Transzendenz aus eben der Ermöglichung, daß "es geschieht", empfinge. Die alteuropäische Identität driftet mithin zwischen den Kalmen der Langeweile und den Sirenen schöpferischer Meditation gen Osten - und zwar völlig unabhängig von den esoterischen Rezepturen des New Age, die mit eher mäßigem Erfolg schon frühzeitig versucht haben, die verwaiste Sehnsucht zu kolonisieren. Zu den großen Ironien der Weltgeschichte gehört, daß diese Drift zu einer Zeit einsetzt, da der ferne Orient umgekehrt entschlossen zu sein scheint, sich den westlichen Leistungsdiktaten des globalisierten Utilitarismus ohne Rücksicht auf Verluste zu unterwerfen.

In gewisser Weise hat sich also die Gegenwart - stellvertretend für die Zukunft - bereits von der Vergangenheit befreit, sie hat genaugenommen keine andere Wahl gehabt, als sich willig von der entfesselten Dynamik sei es ihrer Zerfallsprozesse sei es des wissenschaftlich-technologischen Fortschritts in die Zukunft katapultieren zu lassen, wobei noch ungewiß ist, ob sie nicht von den unbewußten Prämissen dieses jenachdem Aufbruch- oder Abbruchunternehmens eingeholt wird. Die heraufdämmernde Hypertelie zeigt sich daher von Ambivalenzen überschattet, allenthalben regen sich Widerstände und paradoxe Reaktionen. Auf wenigstens zwei möchte ich abschließend kurz eingehen.

Die technologische Freisetzung physischer Ressourcen schärft neuerdings das Bewußtsein für eine bislang funktional verdinglichte Dimension unseres Lebens. Erst jetzt kann der vom permanenten Bereitschaftsdienst als Energiesklave und Reproduktionsmaschine erlöste Körper zum Gegenstand einer luxurierenden narzißtischen Sorge mit unweigerlich hypochondrischen Manierismen werden. Die Zerebralisierung der Lebensvollzüge setzt einerseits kognitive Kapazitäten und insbesondere die Sensomotorik frei: man bewegt sich immer mehr um der Bewegung willen, sieht, hört und schmeckt um des Sehens, Hörens und Schmeckens willen, weil die kinästhetischen und organoleptischen Vermögen für den Sebsterhaltungsauftrag entweder nicht mehr gebraucht oder zumindest nicht mehr ausgelastet werden. In dem Maße, da Computer kybernetische Aufgaben übernehmen, wird auch ein Denken um seiner selbst willen möglich. Als heimliches Telos der Teleologie zeichnet sich nichts weniger als die Aufhebung der Instrumentalisierung von Körper und Geist ab. Andrerseits erreicht hiermit die seit der Neuzeit sich verschärfende Desynchronisation von biologischen Rhythmen und soziokulturellen Lebensformen einen dramatischen Wendepunkt. Das phylogenetische Programm läßt sich von der gelinderten Subsis-tenznot kurzfristig nicht beeindrucken (Biologen haben für spontane Mutationen eine Durchsetzungsrate von bis zu 50 Generationen errechnet, das sei den modischen Nachrufen auf den Körper ins Stammbuch geschrieben).

Noch kann niemand sagen, ob es gelingt, den Reizverlust zu kompensieren, ohne die Differenz von Simulation und Ernstfall zu verwischen. Die massenhafte Suche nach dem thrill oder kick zeugt einstweilen von der Fortdauer eines Finalismus, der mangels authentischer Bewährungsproben seinen ursprünglich selbsterhaltenden Sinn ins Gegenteil verkehrt - "der Mensch will lieber noch das Nichts wollen, als nicht wollen", wußte schon Nietzsche vom latent todessüchtigen Tonus des arbeitslosen Idealismus[30]. Wir wissen nicht, ob in einer vollautomatisierten Gattung soziale Kommunikation jenseits unmittelbarer Tausch- und Reproduktionsakte überhaupt stattfinden wird. Und schwer abzuschätzen ist schließlich auch, ob und wie ein vom Finalisierungsdruck befreites Denken sich motivieren wird, wenn es sich eines wesentlichen Spannungsverhältnisses, einer bislang konstitutiven Negativität beraubt sehen wird (der Konstruktivismus, der glaubt auf eine Korrespondenztheorie von Innen- und Außenwelt verzichten zu können, gibt uns einen ersten faden Vorgeschmack darauf). Unschwer läßt sich indessen vorhersagen, daß an diesen Schnittstellen Potentiale brach zu liegen drohen, auf die heute schon die neu erstarkenden Administrationen des religiösen Sinnbedürfnisses zu spekulieren beginnen.

Ungleich verwickelter stellen sich die Ambivalenzen in der aus den Fugen geratenen Teleonomie der Geschlechterspannung. Die Frauenbewegung war ursprünglich mit dem utopischen Ehrgeiz angetreten, die formal-juridische Gleichstellung der Geschlechter als Trampolin für eine Eroberung maskulin besetzter gesellschaftlicher Positionen und politischer Institutionen zu nutzen, die diese von Grund auf transformieren sollte. Davon ist nicht mehr geblieben als die restlos angepaßte und peinlich bürokratisierte Partizipation an den psychosozial wie ökologisch ruinösen Direktiven der Konkurrenzgesellschaft. Selbst dort, wo Veränderungen individuell induziert werden könnten, in der jeweiligen Balancierung gegenseitiger Wünsche zwischen den Paaren, beschränkt sich der Beitrag der Frauen darauf, die Männer mit maßlosen Geltungsansprüchen zu konfrontieren, ohne irgend erkennen zu lassen, was sie im Gegenzug anzubieten bereit sind. Das bereits Vorhandene noch einmal, nur statistisch besser durchmischt, ist weder programmatisch wünschenswert, noch für die betroffenen Männer, deren Daseinsberechtigung kompensationslos liquidiert werden soll, annehmbar (der Satz "was ihr macht, das können wir auch", so er denn stimmt, gilt nicht in der Umkehrung). Skandalöser jedoch ist, worüber nicht gesprochen wird: daß Frauen sich Bewegungsfreiheiten der Männer erkämpfen, durch die sie von diesen unabhängiger werden, ohne wiederum an der Lockerung der psychosexuellen Fesseln zu arbeiten, durch die sie das "starke Geschlecht" seit frühester Kindheit an sich binden. Darin aber bahnt sich eine Destabilisierung des alten Gleichgewichts der Abhängigkeiten an, die das zivilisatorische Minimum, das dieses garantierte, im Kern bedroht.

Auf ganzer Front sollen die Männer zurückweichen, angestammte Positionen räumen, endlich jene zivilen weiblichen Tugenden einüben, die Friedenszeiten angemessen sind; sieht man aber von einer halbherzigen Einladung zum Windelnwechseln ab, warten sie vergeblich auf Angebote, die sie zu den mühsamen Korrekturen stereotyper, z.T. evolutionär verfestigter Reaktionsmuster ermutigten. Im Gegenteil: sobald sich die Geschlechter intim begegnen, ja damit es überhaupt zu einer solchen Begegnung kommt, setzen Frauen ausgerechnet auf die sonst geschmähte Angriffsfreude ihres Gegenübers, anstatt ihr durch eigene Initiative zuvorzukommen; setzen mit ungebrochen steinzeitlichem Instinkt auf Status und Statur - ebenfalls Quellen angeblich verhaßter männlicher Dominanz. Dieselbe postmoderne Frau, die ungeheure Energien für die Durchsetzung sozialer, beruflicher und juridischer Ansprüche zu mobilisieren weiß, zieht es privatissime vor, weiterhin das traditionelle Privileg der Gesuchten, Begehrten, Umworbenen zu genießen, die ihren Wert künstlich durch Verknappung hochschraubt, um oft genug erst als Prämie für Wohlverhalten (Ausdauer, Einfallsreichtum der Werbung etc.) in eine Liason oder auch nur Kohabitation einzuwilligen. Diese Rolle ist offensichtlich so hochgradig narzißtisch besetzt, daß sie alle Autonomievorsätze unbeschädigt, um nicht zu sagen unbemerkt passieren konnte. Nichts aber zwingt Männer so sehr zur Regression auf ihre konditionierten Reflexe als diese Weigerung der Frauen, ihrem neuen Tatendrang auch in eroticis Ausdruck zu verleihen und die überaus bequeme Passivität ihrer imaginären Objektstarre zu verlassen.

Vor diesem Hintergrund ergibt sich zwingend eine strukturelle Komplizenschaft des Weibchens an der zielfixierten, destruktiven Umtriebigkeit ihres Antipoden. Die abwartende Untätigkeit der einen, die sich damit begnügt, sich sehen zu lassen, kurbelt automatisch den habituellen Zielsuchlauf des anderen an. Den Blick als Waffe einzusetzen, den anderen als Beute oder als etwas zu Eroberndem ins Visier zu nehmen, zu fixieren, zu verfolgen: was Männer an frühgeschichtlichen Universalien vor Leinwand und Bildschirm aktualisieren[31], fordern ihnen ernsthaft nur noch die Frauen ab (und der Autoverkehr). Das preziöse weibliche Spiel von Erstarrung zum (Fern-)Bild und sich-Entziehen, von Hinhalten und Gewähren perpetuiert nicht nur die eherne Herr-und-Knecht-Dialektik; verhängnisvoller - besonders im Zeitalter televisuell zelebrierter Finalität - dürfte die reservatio sexualis maßgeblich an der Provozierung eines taktischen, latent sadistischen, auf Beherrschung und Überwältigung setzenden Typs von Objektbezug beteiligt sein.

Im Zeichen nachlassender Zielstrebigkeit bzw. gebrochener oder zumindest geschwächter Intentionalität stellt sich für die Zukunft der Geschlechterbeziehungen andererseits die Frage, ob man eine weitgehende Deregulierung der Rollenfixierungen - immer vorausgesetzt sie sei mit dem endokrinen Eigensinn der Libido vereinbar - überhaupt wollen soll. Vieles spricht dafür, daß die schleichende (triebdynamische, morphoplastische, verhaltensspezifische) Androgynisierung geradewegs auf eine Entropie der Geschlechtersspannung zusteuert. Schon jetzt flüchten die Fusionsphantasien in den Cyberspace, schrumpft der Aktionsradius Paarungswilliger auf die Sichtung von Kontaktanzeigen. Zwar würde eine Entlastung des Mannes vom sexuellen Initiativdruck diesen vermutlich auch sonst zu einem entspannteren Umgang mit den Zumutungen des In-der-Welt-seins verleiten; doch sie wäre mit einer teleomorphen Kanalisierung weiblicher Beziehungsenergien erkauft. Abgesehen davon, daß mit der sexuellen Differenz auch Geheimnis und Anziehungskraft des anderen schwinden (und schierer Nächsten- oder auch Geschwisterliebe werden niemals die Funken der Leidenschaft entspringen), würden Frauen jene stoische Beharrungs- und Bewahrungskraft verlieren, mit der sie seit Beginn der Menschwerdung die bergeversetzende Raserei maximalinvasiver Maskulinität halbwegs in Schach gehalten haben. Die Form einer künftigen Geschlechterordnung wird mit anderen Worten das Schicksal aller relevanten Menschheitsfragen entscheidend beeinflussen. Mit der restlosen Integration einer bislang teilweise von ihr ausgeschlossenen Menschheitshälfte drängt die Zivilisationsgeschichte weiter auf die Liquidation des ihr Fremden, Äußeren, Anderen, an dem sie lange ihr unbewußtes Korrektiv gehabt hat. Über diese permanente Revolution - die einzige, die diesen Namen verdient - wird man allerdings erst sinnvoll reden können, wenn es künftigen Diskursgemeinschaften gelingt, sich von den Scheuklappen eines bisweilen fanatischen Kulturalismus zu befreien, der am liebsten noch die primären Geschlechtsmerkmale auf den armseligen Status gesellschaftlicher Konstruktionen zurechtstutzen möchte.

Epilog

"Wie kann man leben ohne Unbekanntes vor sich?", notierte René Char 1943 im Maquis. Man kann nicht. Aber man muß erst verlernen, wie man es hinter sich bringt. Und dann ist es vorbei.


[1] Siegfried Kracauer, Geschichte - Vor den letzten Dingen, Ffm. 1971, S.196.[Zurück]

[2] Peter Sloterdijk, Versuch über das Aufhören. Rundfunkessay SFB 1992.[Zurück]

[3] E.M. Cioran, Geschichte und Utopie, Stuttgart 1979, S.118.[Zurück]

[4] Das Böse ist die Zukunft, in Jenseits der Nation, Berlin 1991, S.69f.[Zurück]

[5] Nietzsche, Werke (Schlechta) III, S.822.[Zurück]

[6] Emmanuel Lévinas, Die Zeit und der Andere (1947), Hamburg 1984, S.48.[Zurück]

[7] Giacomo Marramao faßt diese Diskussion dahingehend zusammen, "die kulturelle Abhängigkeit des modernen Geschichtsbegriffs vom 'infuturierenden' Charakter des prophetischen Wortes sei demgemäß sichtbar im Weiterbestehen des Glaubens, die Ereignisse hätten nur dann einen 'Sinn', wenn sie auf einen 'Zweck' bezogen sind, der sie transzendiert. Und weil das historische Geschehen sich in der Zeit abspielt, müsse dieser Zweck a fortiori mit einem künftigen 'Ziel' zusammenfallen." In: Die Säkularisierung der westlichen Welt, Ffm. 1996, S.95.[Zurück]

[8] Für diese zur "Chance mit unvermeidlichem Restrisiko" und zum Optionenpaket "operationalisierte" Zukunft hat sich bereits der Begriff der "erstreckten Gegenwart" durchgesetzt. Vgl. Helga Nowotny, Eigenzeit, Ffm. 1993, S.52ff.[Zurück]

[9] Peter Sloterdijk, Etwas vor sich haben. In ders. (Hrsg.), Vor der Jahrtausendwende. Ffm. 1990.[Zurück]

[10] Dietmar Kamper, Umgang mit der Zeit. In: W. Kaempfer, Die Zeit und die Uhren, Ffm. 1991, S.267f.[Zurück]

[11] Jean Baudrillard, Die Illusion des Endes oder der Streik der Ereignisse. Berlin 1994, 1994, S.115f. [Zurück]

[12] Vom Leben des Geistes 1: Das Denken. München 1989, S. 204.[Zurück]

[13] Peter Sloterdijk, Weltfremdheit, Ffm. 1993.[Zurück]

[14] Michael Theunissen, Negative Theologie der Zeit, Ffm. 1991, S. 291.[Zurück]

[15] Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben, Werke, a.a.O. (KSA Bd. 1, S.250.[Zurück]

[16] Lévinas, Die Substitution, in Die Spur des Anderen, a.a.O., S. 295-330, hier 319. [Zurück]

[17] Thomas Hobbes, Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates (11.Kapitel), 75.[Zurück]

[18] Freud, Jenseits des Lustprinzips, GW XIII, 44f.[Zurück]

[19] Anthropologie in pragmatischer Absicht, Werke (Weischedel) VI, S.554f.[Zurück]

[20] Nietzsche, a.a.O., S. 677.[Zurück]

[21] Die fragmentarischen Aufzeichnungen von 1868 Zur Teleologie (Musarion-Ausgabe) kreisen um die anthropomorphisierenden Projektionen in den Begriffen des Ganzen, des Organismus und der Zweckmäßigkeit bei Kant. [Zurück]

[22] Arnold Gehlen hat das Phänomen der Langeweile aus der zwecksetzenden Verplanung von Lebenszeit abgeleitet (Das gestörte Zeit-Bewußtsein); kein Wunder also, daß es außereuropäischen Völkern unbekannt ist. Hierzu, sowie über den kriminologisch einschlägigen Zusammenhang von Langeweile und Gewaltverbrechen vgl. Martin Doehlemann, Langeweile? Deutung eines verbreiteten Phänomens. Ffm. 1991.[Zurück]

[23] Heraklit, B 52 (Diels-Kranz).[Zurück]

[24] Theunissen, a.a.O., S. 304f.[Zurück]

[25] Rudolf Bilz, Wie frei ist der Mensch? Ffm. 1973, S. 188.[Zurück]

[26] Jacques Hochmann und Marc Jeannerot, Esprit, où es tu? Psychoanalyse et neuroscience, Paris 1993, S.129.[Zurück]

[27] Grundlegend für den Zusammenhang von physis, ergon und telos: Martin Heidegger, Vom Wesen und Begriff der Physis. Aristoteles, Physik B, 1. In: Wegmarken.[Zurück]

[28] Der Vagus-Tod, in Die unbewältigte Vergangenheit des Menschengeschlechts. Ffm. 1967. [Zurück]

[29] Der flexible Mensch. Berlin 1997.[Zurück]

[30] Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. Dritte Abhandlung: Was bedeuten asketische Ideale?.[Zurück]

[31] Vgl. hierzu Peter Sloterdijks Terminator-Analyse: Sendboten der Gewalt. In: Medien-Zeit, Edition Cantz, Stgt. 1994.[Zurück]

Entstanden 1999. Bislang unveröffentlicht