Daniele Dell'Agli : Essays : Deutschland


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Ubi lingua ibi domus

Über Sprachkultur als Integrationsmedium und die Grenzen der Religionsfreiheit

Die einen wissen nicht genau, was damit gemeint sein soll, die anderen verbitten sich die Anmaßung, die dritten leugnen, daß es so etwas überhaupt gibt. Es ist leicht, sich über den Begriff "Leitkultur" zu empören, noch leichter, sich darüber zu mokieren und den Anspruch zu trivialisieren, den er anmeldet. Das Triviale indes bedeutet wörtlich das, was einem an jeder Straßenkreuzung begegnet - oder eben in jeder Tageszeitung, wo deutsche Kulturträger auf unnachahmlich deutsche Weise einander darin überbieten, deutsche Kultur weder tragen noch von ihr getragen sein zu wollen. Und so blieb es in der bisherigen Debatte bezeichnenderweise dem Sohn eines Einwanderers - dem Kölner Publizisten Mark Terkessidis - vorbehalten, die deutsche Öffentlichkeit daran zu erinnern (im Tagesspiegel vom 4.11.), daß "deutsche Leitkultur" für "Ausländer" tagtäglich gelebte und vor allem erlittene Erfahrung ist. Da jedoch auch sein Beitrag nach der berechtigten Anklage beschämender Zustände in den Kanon der Arglosen einstimmt, mögen ein paar grundsätzliche Überlegungen zum Selbstverständlichen, von dem niemand etwas wissen will, angebracht sein.

Die Ableitung des Hoheitsanspruchs einer Leitkultur von der unbedingten Geltung und Durchsetzung der verfassungsmäßig garantierten Grundrechte ist im genannten Sinne trivial und darum hochgradig brisant. Denn an diesen Grundrechten sind alle im BGB festgehaltenen Rechtsvorschriften ausgerichtet, die wiederum sämtliche Beziehungen der Individuen und Gruppen einer Gesellschaft regeln (sowie ergänzend die Normen des StGB); und zwar so, daß sie von den Einzelnen als Elemente ihres moralischen Selbstverständnisses verinnerlicht werden und darum nur im Konfliktfall bewußt reflektiert müssen. Da sich aber das Ensemble innerer Einstellungen und überkommener Gewohnheiten, das man Mentalität nennt, ebenso ändert wie die äußeren Lebensbedingungen (wenngleich wesentlich langsamer als diese), bestimmen die Rechtsvorschriften nicht nur das Zusammenleben der Menschen, sondern sind ihrerseits auch Ausdruck desselben und werden dementsprechend - im Rahmen des Grundgesetzes - fortlaufenden Änderungen unterzogen. Wer sich auf eine Leitkultur der Grundrechte beruft, meint daher nicht nur das ethische Regulativ eines Gesetzeskatalogs, sondern immer auch das unmittelbar angewandte Recht ebenso wie die unauffällige Realisierung des verinnerlichten Wertesystems in den täglichen Lebensvollzügen. Medium sowohl der Verinnerlichung als auch der Realisierung ist die Sprache, wie sie nicht nur in Erziehung und Unterricht, sondern vor allem in den konkreten Auseinandersetzungen mit Eltern und Freunden, Nachbarn und Kollegen, Lehrern und Vorgesetzten, Kunden und Geschäftspartnern usf. charakterbildend gelernt und geübt wird.

Die Leitkultur eines Landes ist demnach mehr und weniger als die Mentalität seiner Bevölkerung. Mehr: an ihr finden selbst Haltungen und Begehrlichkeiten ihre Grenze, die regional, milieuspezifisch, traditionell oder gewohnheitsrechtlich vom Verfassungskonsens abweichen. Weniger: sie kann auf die von ihr geforderte Selbstverantwortung der Rechtssubjekte nur zählen, wenn sie diesen genügend Freiraum für die Gestaltung ihrer individuellen Lebensentwürfe läßt - und ihren Eigensinn vor dem normativen Druck der sie umgebenden Mehrheitskultur schützt. Anders gesagt: ohne übergreifende und handlungsorientierende Leitkultur keine sinngerichteten Lebensstile und keine gemeinschaftsstiftenden Subkulturen.

Was folgt aus diesen trivialen Feststellungen für das Problem der Integration?

Man kann kein Verständnis für die Lebensformen einer fremden Gesellschaft und keinen Respekt vor ihrem Wertekanon entwickeln, wenn man nicht an ihren Sprachspielen teilnimmt: ubi lingua, ibi domus. Sich einer Sprachkultur öffnen heißt aber, sich den historisch gewachsenen Vorstellungen, Prinzipien und Umgangsformen einer Gesellschaft öffnen: ein Prozeß, der je nach Alter, Bildung und Abstand zu der Herkunftskultur zu einer mehr oder weniger starken Erosion derselben führen muß. Daß ein Großteil der in Deutschland lebenden Muslime noch nach Jahrzehnten kaum mehr von der Landessprache beherrscht, als man in den ersten Wochen lernen kann, und daß ihre Kinder noch in der dritten Generation zum Zeitpunkt der Einschulung kein Wort Deutsch sprechen, ist vor allem Ausdruck ihrer Weigerung, sich von der traditionellen Leitkultur ihrer Herkunftsländer, also vom Islam zu verabschieden. Nur Einwanderer, die um den Verlust ihrer kulturellen Identität fürchten, beschränken ihre Kontakte mit den Angehörigen des Aufnahmelandes auf ein Minimum. Und kein noch so forcierter Sprachunterricht vermag integrativ zu wirken, wenn das Lernen eines abstrakten Regelwerks nicht in die Praxis sozialer Beziehungen umgesetzt wird.

Daß Immigranten überhaupt dauerhaft lebensfähig sind in einem fremden Land, von dem sie kaum mehr als das Wetter und die Ausländerbehörde zur Kenntnis nehmen, verdanken sie dem Auffangsystem ihrer Clanwirtschaft und der ihr zugrunde liegenden kollektivistischen Gesinnung. Diese hat vor allem in Berlin und in Nordrhein-Westfalen zur Bildung regelrechter Enklaven geführt, in denen die Scharia - das heilige islamische Gesetz - oberste Autorität auch in allen weltlichen Belangen beansprucht. Verstöße gegen die Menschenrechte wie etwa die Zwangsverheiratung von Töchtern, die den Tatbestand schweren Menschen-handels erfüllt, können in diesen rechtsfreien Räumen weitgehend kaschiert werden und bleiben ungeahndet. Weil man bei Verbrechen, die im Einklang mit der Scharia begangen werden, von keinem Unrechtsbewußtsein der Täter ausgehen kann, zielt das in diesem Zusammenhang abwiegelnd gebrauchte Argument, Deutsche müßten sich auch ans Grundgesetz halten, also brauche man über die Loyalität ethnisch-religiöser Minderheiten nicht eigens zu reden, am Kern des Problems vorbei. Und die oft beflissen bemühte Unterscheidung zwischen gewöhnlichen Muslimen und Fundamentalisten reduziert sich in Fragen der täglichen Lebensführung darauf, daß Letztere triumphierend ausposaunen, was die anderen allenfalls unter vier Augen zugeben würden. Doch daß ein korangetreu exekutierter Islam, der die Trennung von sakraler und ziviler Sphäre nicht anerkennt, schlicht verfassungsfeindlich ist, das will hierzulande niemand Ernst nehmen, am allerwenigsten der Innenminister. Man zieht es vor, die Menschenwürde des Individuums in China einzuklagen, statt sie vor der eigenen Haustür, wo man verantwortlich und handlungsbefugt ist, durchzusetzen. Der von Bassam Tibi (zuletzt im Rheinischen Merkur 45/2000) beschworene "Euroislam" hingegen ist bislang nicht mehr als Wunschvorstellung, bestenfalls Experiment einiger Intellektueller; die Kräfte, die den für eine Erneuerung dieser Weltreligion dringend benötigten Säkularisierungsschub entfesseln und steuern könnten, sind jedenfalls nirgends in Sicht.

Nun gehören zu einer verwickelten Beziehung im Guten wie im Bösen immer noch zwei Parteien, und es versteht sich, daß der deutsche Staat seinerseits maßgeblich für die Entstehung einer Situation verantwortlich ist, die in ihrer extremen Polarisierung für Einwanderungsländer ohne Beispiel ist: nirgendwo in Europa haben Immigranten sich so massenhaft und so ostentativ jeder Vermischung mit den Einheimischen verweigert wie ein Teil der Türken und die überwiegende Mehrheit der Kurden und anderer Muslime in Deutschland. Und nirgendwo sehen sich Zuwanderer mit derart starren, schikanösen und vormodernen Rechtsvor- schriften und einer derartigen "Kombination aus Ignoranz und Desinteresse" (Tibi) seitens der Politik konfrontiert. Auch auf deutscher Seite werden die atavistischen Phantasmen des Reinen, des Homogenen, des Eigenen und der Herkunft genährt, insbesondere durch die ius sanguinis, die sogar in Deutschland geborene Kinder nichtdeutscher Eltern zu Ausländern erklärt. Und so bringt die politisch instrumentalisierte Fremdenfeindlichkeit ("Kinder statt Inder") nur hin und wieder zum Schäumen, was die politisch institutionalisierte Fremdenfeindlichkeit des Ausländerrechts unablässig an Vorurteilen und Ressentiments schürt. Ein Stammtischgemüt, das im Fernsehen vorgeführt bekommt, wie mit Asylbewerbern umgesprungen wird, in welch unwürdigen Verhältnissen sie untergebracht und unter welchen Bedingungen sie abgeschoben werden, kann nicht umhin festzustellen, bei Ausländern handele es sich offenbar um Menschen zweiter Klasse, für die Artikel 1 bis 19 des Grundgesetzes nicht gelten. Die Übertragung solcher Eindrücke auf alle in Deutschland Lebenden anderer Hautfarbe oder Nationalität, insbesondere auf jene, denen die vollen Bürgerrechte trotz langfristigem Aufenthalt verwehrt werden, ist dann ein Analogieschluß, der selbst die geistigen Kapazitäten rechtsradikaler Dumpfbacken nicht überfordern dürfte.

Das Desinteresse der Politik am Schicksal ethnischer Minderheiten wiederum hängt mit einer zentralen Verlogenheit des liberalistischen Rechtsstaats zusammen: entscheidend für die Art und Dauer des Aufenthaltsstatus von Ausländern in Deutschland war und ist der Nachweis nicht "kultureller Anschlußfähigkeit", sondern der "gesicherten Lebensgrundlage" in Form eines festen Arbeitsplatzes oder ausreichenden Vermögens. Selbst der Verfasser dieses Artikels, der als deutschsprachiger Schriftsteller mit italienischem Paß seit über drei Jahrzehnten in Deutschland lebt, muß sich alle fünf Jahre in der Ausländerbehörde anraunzen lassen, warum er immer noch keiner "ordentlichen Arbeit mit festem Einkommen" nachgehe - Grund genug, ihn anschließend einmal mehr mit einer provisorischen Aufenthaltserlaubnis (und der damit verbundenen Rechtsunsicherheit) abzufertigen. Im fahlen Neonlicht der administrativen Wirklichkeit wird die "kulturelle Bereicherung durch Zuwanderung" kenntlich als schnöde Bereicherung der Finanzkassen. Mit der ökonomischen Selektion wünschenswerter Mitglieder dieser Gesellschaft ist allerdings gerade mal die unterste Kulturstufe erklommen, jene der Hominisierung, bei der es um die elementaren Techniken zur Sicherung des Überlebens eines Stammes geht. Auch das wäre also typisch deutsch: von Kultur sprechen, wenn es um die Kohle geht. Und sich wundern, daß die Fremden sich kulturell nicht integrieren, wo man sich nur für ihre Rentenbeiträge interessiert. Gustav Seibts Diagnose des deutschen "Kulturdünkels" (DIE ZEIT vom 2.11.) darf um dieses Symptom ergänzt werden: Überschätzung symbolischer Politik zur Verbrämung realpolitischer Defizite.

Nach alledem dürfte deutlich geworden sein, daß eine Debatte über Zuwanderung nicht mit den künftig erwünschten Neuzugängen, sondern mit der ungesicherten Situation der bereits hier lebenden "Ausländer" beginnen muß. Dies umso mehr, als auch weiterhin Immigranten nach nützlichen Idioten und entbehrlichen Schmarotzern sortiert werden sollen, womit das Grundproblem einer entritua-lisierten Gesellschaft bleibt: daß sie über keine traditionellen Übergangsriten zur Verwandlung von feindlichen in akzeptierten Fremden verfügt, und daß dieser Mangel an Akzeptanzsicherung nicht durch die Propagierung des volkswirtschaftlichen Nutzens von Neuankömmlingen wettgemacht werden kann. Die Vor-schläge hierzu sind seit langem bekannt und bis in die Gesetzesentwürfe hinein ausgearbeitet: Abschaffung des Abstammungsrechts; automatische Einbürgerung (mit oder ohne doppelte Staatsbürgerschaft) respektive Aufenthaltsberechtigung oder unbefristete Aufenthaltserlaubnis nach spätestens zehn Jahren; Gleichstellung in allen Belangen des bürgerlichen Rechts (einschließlich Wahlrecht), gegebenenfalls auch ohne Einbürgerung.

Die umfassende Anerkennung eines gleichberechtigten Status deutscher und nichtdeutscher Inländer sollte abhängig gemacht werden vom Nachweis einer gelungenen Akkulturation. Das Gelingen ist allerdings seinerseits davon abhängig, daß der deutsche Staat mit einer offensiven und nicht länger bloß passiv toleranten Integrationspolitik auch allen künftigen Zuwanderern signalisiert, daß als ultimatives Aufnahmekriterium ihre Bereitschaft gewertet wird, sich von ihrer Herkunftskultur und den archaischen Lebensformen, Weltbildern und Moralvorstellungen zu emanzipieren, die letztlich - politisch, ökonomisch und sozial - für die unerträglichen Zustände im Heimatland verantwortlich sind; mit anderen Worten: von ihrer Bereitschaft, die Chance eines Neuanfangs zu ergreifen.

Erstabdruck leicht gekürzt in der FR vom 1.12.2000