Daniele Dell'Agli : Essays : Kulturkritik


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Diesseits des Ernstfalls, jenseits des Verdachts.

Eine Verteidigung der Kultur gegen den Kulturalismus

Kaum ein Begriff ist so schwer zu definieren, kaum ein Sachverhalt mühevoller zu vermitteln, und das nicht trotz, sondern gerade wegen seiner allgegenwärtigen, mehr und mehr enervierenden Präsenz: Kultur. In dem Maße, wie der Begriff aufgrund seines inflationären Gebrauchs an Konturen verliert, nimmt die Gleichförmigkeit und damit die Beliebigkeit des von ihm Gemeinten zu. Dieselbe kritische Intelligenz, die unablässig den Basar der Sub- und Partialkulturen feiert und empört die Erinnerung an die integrierende - sinnstiftende, wertorientierende - "Leitkultur" einer Sprachgemeinschaft zurückweist, streitet im Namen eines allumfassenden Kulturbegriffs - und das nicht erst im "Jahr der Lebenswissenschaften" - jegliche Relevanz biologischer Tatsachen für die Conditio humana ab. Die These des folgenden Essays ist, daß hinter den postmodernen Ermächtigungen kultureller Zuständigkeiten sich ebensoviele Anschläge auf die unverzichtbaren Selbstverständlichkeiten unserer Lebenswelt verbergen; daß die Dominanz kulturalistischer Denkmuster die zivilisatorische Substanz aufzuzehren beginnt, der sich individuelles Glück und gesellschaftlicher Zusammenhalt gleichermaßen verdanken.

Kultur, hat Nietzsche einmal gesagt, ist...: So beginnt der Kulturalist. Die unauffällige Suggestion dabei: der Diskurs ist vor seinem Gegenstand da. Worüber wir reden gibt es nur und insofern wir darüber reden. Selbst Geburt und Tod, Lust und Schmerz, Wolke und Wind gäbe es nicht, würde nicht die für Homo sapiens so charakteristische Logorrhöe unermüdlich daran arbeiten, diese Phänomene für uns zu erzeugen. An diesem Anspruch fällt sogleich die seltsame Unbekümmertheit auf, mit der im neuen, konstruktivistischen Gewande just jener demiurgische Schöpfermythos in Dienst genommen wird, dessen anmaßende Geste ansonsten den Gentechnologen zum Vorwurf gemacht wird. Eine Inkohärenz, die dadurch verschärft wird, daß das Gemachte als Inbegriff des Zerstörbaren ebenso wie des Reproduzierbaren den modernen Fetischkategorien Autonomie und Individualität allenfalls einen ontologischen Schatten, aber nicht die geringste Dignität verleiht. Die wohlfeile kantische Unterscheidung zwischen einer Natur an sich und einer, die immer schon Kultur ist, weil wir sie nur gemäß unserer Sprache kennen und erkennen, ist überdies eine Dichotomie, die schon angesichts der permanenten Übergänge und Transformationsleistungen von einer Sphäre in die andere falsch anmutet und vollends abgründig wird, wenn wir bedenken, daß das Organ, das ein Ansich "da draußen" von der Erkenntnis absperrt, kategorial dazugehört, nämlich das Gehirn.

Bedenklicher für den hier anvisierten Zusammenhang ist jedoch, daß mit der Verdrängung eines Ungeschaffenen, eines vor jedem menschlichen Eingriff Entstandenen und forwährend Entstehenden - eben der Natur - zugleich jenes Außen oder Andere der Kultur diskursiv eliminiert wird, das schon als logischer Widerpart unverzichtbar ist, sollen ihre Differenzbestimmungen nicht tautologisch ausfallen. Die geschlossene Welt des Immanenzbewußtseins aber ist die Brutstätte jener Wertkrise, die bei Nietzsche Nihilismus heißt und die moderne Sinnkrise vorwegnimmt. Nihilistische Relativierung aller Werte setzt dort ein, wo der Mensch keine transzendente Macht mehr anerkennt, die seinem Denken und Handeln Schranken auferlegt - wörtlich: de-finiert -, und auf die er nur bedingt Einfluß zu nehmen vermag. Mit dem Verschwinden einer absoluten Referenz geht der Maßstab verloren, kulturelle Unterschiede überhaupt qualifizieren und kulturelle Optionen rechtfertigen zu können.

Wer sich vom alles egalisisierenden "Differenzkult der aktuellen Gesellschaft" (Peter Sloterdijk: Die Verachtung der Massen) nicht einschüchtern läßt, wird nach wie vor mit der Alternative konfrontiert, unter Kultur entweder die elementaren Techniken zu verstehen, die den Menschen aus dem regnum animale in einen gesellschaftsfähigen Zustand überführen; oder die werk- und repräsentationsgestützten Angebote des Kulturbetriebs zur mutmaßlichen Verfeinerung der Sinne und des Gemüts. Im Zweifelsfall empfiehlt sich ein Rekurs auf die sprachgeschichtliche Herkunft: Kultur kommt ebenso wie Kult von colere = den Acker pflegen, den Boden bebauen: also etwas voraussetzend, was nicht schon kultiviert ist. Das ist zunächst Natur, sodann alles, was wie Natur, also naturwüchsig oder eben als zweite Natur begegnet einschließlich der lebensweltlichen Formen und Strukturen, in die jemand hineingeboren wird. Entscheidend ist der Aspekt des Vorgängigen, eines Substrats oder Materials, das Grundlage und Energie für die Bearbeitung liefert, und zwar mit jeder neuen Generation und jedem neuen Weltbewohner wieder aufs Neue, sodaß der Verweis darauf, daß alles Kultur ist, was jemals kulturell bearbeitet wurde, nicht greift, es sei denn man bekennt sich zu einem Vulgärlamarckismus erblicher Sekundärtugenden. Der Mensch kommt nur kulturell als Tabula rasa auf die Welt, als Naturwesen sind ihm Programme, Dispositive und Vermögen evolutionär eingeschrieben, die Kultur jenachdem ermöglichen, verhindern oder gar notwendig machen und in jedem Fall begrenzen.

Hier wird ein dritter eklatanter Widerspruch kulturalistischer Argumentation deutlich: das Postulieren einer gesellschaftlich nahezu unbegrenzt modellierbaren Verfügungsmasse des Humanums - eine Einstellung, die man in geradezu klassischer Projektion den Biowissenschaften unterstellt - im Namen einer Fortschrittsidee, nämlich der Aufklärung oder der Emanzipation, die man ansonsten nicht müde wird, für naiv, illusorisch oder technokratisch zu denunzieren. Das nimmt insbesondere auf dem sankrosankten, über jede Kritik erhabenen Feld der Geschlechterforschung die grotesken Züge sprießender Angsttriebe an: Je überzeugender Endokrinologen und Chronomediziner, Neurowissenschafter und Molekularbiologen darlegen, in welch entscheidendem Ausmaß selbst Gefühlszustände, Denkbewegungen und sexuelles Verhalten von endogenen - kulturell invarianten und allenfalls minimal variierbaren - Rhythmen und Substraten abhängen, desto hysterischer versteifen sich die sogenannten Gender studies darauf, daß Körper und Geschlecht - die Basiselemente jeder Identitätsbildung - ein soziales Konstrukt sind. Mittlerweile gelten selbst in Hunderten von Jahrmillionen erprobte Strategien der Evolution wie etwa die Heterosexualität als veritable Machenschaften (in diesem Fall: als Verschwörung des Patriarchats).

Paradoxerweise befördern kulturalistische Erklärungsmuster genau das, was sie den biologistischen vorwerfen: die Reduktion der conditio humana auf eine Summe von Kausalitäten, die man objektivierend rekonstruieren kann. Wenn wir nämlich behaupten, der Mensch sei ausschließlich oder auch nur weitgehend das Produkt dieser oder jener sozialen, historischen etc. Bedingungen und Einflüsse, dann wissen wir einigermaßen, wovon wir sprechen; schließen wir uns der naturalistischen Darstellung an, der Homo sapiens sei maßgeblich "Ausdruck" phylogenetischer Anlagen, dann nehmen wir zwar auch eine Reduktion in Kauf, haben damit aber höchstens den winzigen Zipfel eines unvorstellbar langen und komplexen Prozesses erwischt, von dem wir mit Recht bezweifeln dürfen, ob wir ihn jemals zur Gänze verstehen werden. Gerade aus stammesgeschichtlicher Sicht sind wir nach wie vor mit dem Mysterium konfrontiert, wie wir wurden, was wir sind. Und vieles spricht dafür, daß dieser Geheimniszustand oder dieser blinde Fleck, dieses prinzipielle Nichtwissen über uns selbst zu unseren geistigen Vitalfunktionen gehört. Umgekehrt kann man Sloterdijk nur zustimmen, wenn er diagnostiziert, daß Entzauberung immer Devitalisierung bedeutet: der entzauberte Mensch ist ein chronisch depressiver, der seinem lähmenden Eingesperrtsein in die selbstreferentiell gewordene Welt durch chronischen Aktionismus zu entfliehen sucht. Der Wille zur Entzauberung ist selbst Symptom einer kulturellen Erschöpfung. Nicht "Kapitalismus und Depression" muß das Junktim des Zeitalters heißen, sondern "Kulturalismus und Depression": es ist der Autonomieanspruch der Selbstverwirklichungsideale, von dem sich die Individuen überfordert und allein gelassen sehen. Tagaus, tagein wird ihnen von allen Wissensagenturen der Gesellschaft eingehämmert, Identität sei ein Patchwork, das man nach Belieben mit Versatzstücken aus dem großen Supermarkt Kultur zusammenbasteln könne. Was sie machen, woran sie glauben, wen sie lieben, wofür sie sich einsetzen - das alles brauchten sie sich nur auszusuchen.

Muß man die Ideologie der "Multioptionsgesellschaft" - so nennt sich diese soziologische Formatierung der Willensfreiheit - an die Instanz erinnern, die die Wahl trifft und das Material nach mehr oder weniger unbewußten Kriterien synthetisiert? Soll man wirklich die Binsenweisheit bemühen, daß niemand sich seine Eltern, seine Lehrer, Nation, Sprache oder Beruf aussuchen kann? Nein, es genügt darauf hinzuweisen, daß der weitaus größte Teil der Menschheit auch in Europa nicht über das C4-Gehalt verfügt, um sich über alternative Lebensstile den Kopf zu zerbrechen.

Nun setzt der Kult des selbstentworfnen Andersseins, soviel sei eingeräumt, eine partielle Entlastung der Individuen von den traditionellen Einflüssen und Determinanten (Familie, Schule, Partei, Militär, finanzielle Not usf.) oder zumindest ihre Verdrängung voraus. Offenbar soll er die Unfähigkeit kompensieren, in Zeiten der Entlastung vom Ernstfall - also von Krieg und Hunger, Naturkatastrophen und Epidemien - die Wechselfälle des Lebens überhaupt noch als unverwechselbares Schicksal zu erfahren. Andererseits scheint es zu den Schutzmechanismen der Persönlichkeitsentwicklung zu gehören, sich in jungen Jahren der Illusion hinzugeben, man sei ein reines Kultursubjekt und als solches frei in der Gestaltung des noch unbestimmten Lebenswegs. Für die ernüchternde, aber auch vom Selbstverwirklichungsdruck befreiende Einsicht, überwiegend in der eigensinnigen Variation eines ontogenetischen Musters verstrickt zu sein, wird man erst nach Überschreitung der Lebenshälfte allmählich empfänglich. Und weil diese generationsbedingte Einsichtsfähigkeit mutatis mutandis auch für die Thematisierung körperlicher und sexueller Identität gilt, darf man den Kulturalismus getrost als pubertäre Episode des individualisierten Selbstbewußtseins betrachten.

Nach alledem verwundert nicht, daß trotz der gigantischen Expansion ihrer Hoheitsbereiche die Kulturwissenschaften es versäumt haben, sich der größten theoretischen Herausforderung zu stellen, die von einer globalisierten Kommunikation ausgeht: der Frage, was denn eigentlich die Menschen über alle kulturellen (sprachlichen, ethnischen, sozialen, religiösen, etc.) Unterschiede hinweg verbindet. Vielleicht hoffen manche, daß der weltweite Anschluß an den gleichen Geräten und das weltweite Hopsen zu den gleichen Soundtracks samt ein paar Brocken Technoenglisch das Universalienproblem einfach ersetzen, sozusagen funktional und topisch ablösen werden. Doch zu erwarten ist lediglich eine Betäubung des ambivalenten Gattungssubstrats und seiner Wahrnehmbarkeit, die bislang einzig in der Proklamation der Menschenrechte ihren Ausdruck gefunden hat.

Man braucht nur einen Schritt aus dem Emissionsradius aktueller Weltmusik herauszutreten, um den Abgrund unbegriffener Affinitäten zu ermessen: Warum fühlen sich Asiaten von Schubert gerührt? Geraten Europäer bei afrikanischen Rhythmen in motorische Ekstase? Ähneln die Wiegenlieder in aller Welt einander wie die Wellen der Ozeane? Soll Weltgesellschaft eines Tages mehr sein als der Inbegriff telematischer Prothesen zur Erregung isolierter Nervensysteme, dann kann sich das Wissen um solch wundersame Übereinstimmungen nicht in der Ahnung morphogenetischer Resonanzen erschöpfen. Aber auch für das Unterscheidende und Trennende, von der babylonischen Sprachverwirrung bis hin zum universellen Vorkommen von Fremdenfeindlichkeit zieht der mit jedem Erdenbürger wieder ab ovo einsetzende Prozeß der Hominisierung seine archaische Spur durch die Geschichte. Und warum folgen Auseinandersetzungen zwischen Mann und Frau auf der ganzen Welt - vermutlich seit Menschengedenken - denselben dramaturgischen Mustern? Die wüsten Polemiken gegen einschlägige Studien der Soziobiologie verraten indes den Unwillen der Kulturwissenschaften, die Infragestellung ihrer Deutungsmacht auch nur zur Kenntnis zu nehmen. Es ist, als fürchtete man nichts so sehr wie die Einsicht, daß ein Begriff von Kultur, der seine Daseinsberechtigung auf Gedeih und Verderb an das Primat des Künstlichen und Machbaren gekettet hat, nicht bestehen könnte angesichts einer Realität, die sich gegenüber allen Versuchen nachhaltiger gesellschaftlicher Modellierung als resistent erweist.

Mit dem Affekt gegen lebenspraktische Universalien hat der postmoderne Relativismus zugleich einen Abstraktionsverdacht gegen Allgemeinbegriffe popularisiert, der jede kritische Reflexion zu lähmen beginnt. Schon haben wir uns daran gewöhnt, daß im Namen einer perspektivischen Wahrheit Aussagen über Sachverhalte nur noch hypothetisch getroffen werden; und daß Intellektuelle vorsorglich den Indikativ und die All-Quantoren aus ihrem Vokabular verbannen, merken wir nur indirekt, an der zunehmenden Schwammigkeit ihrer Statements. Wer bei der Entfaltung eines Gedankens noch Gehör finden will, tut gut, ihn in eine erzählende Sequenz, eine Anekdote, einen "Erfahrungsbericht" einzuwickeln und seine Gültigkeit so kasuistisch zu entkräften. Von Talk-Shows bis zu Kongressen - von Seminaren ganz zu schweigen - finden nur noch virtuelle Diskussionen, Scheingefechte statt. Vernetztes Denken wird zwar allenthalben beschworen, doch gemeint sind nicht verwobene Texturen, sondern fraktales Facetten- Splitting; nicht komplexe Analysen, sondern datenkonvertible Molekularprofile. Gefragt ist nicht die Norm, sondern die Ausnahme, die keine Norm bestätigt: das schmeichelt dem Narzißmus der Unvergleichlichen, die für ihre Singularität durch keine Besonderheit mehr auffallen müssen - es reicht, daß sie sind, wie sie sind. Und weil alle Prädikate, selbst so exzellente wie "Künstler" oder "Athlet", keine Auszeichnung mehr bedeuten, klebt das Ausnahme- Etikett bereits an zahllosen "Ausnahme-Künstlern", "Ausnahme- Athleten" usf.. Wo aber die Ausnahme zur Regel wird, kommt der Betrachtung des Besonderen kein privilegierter Status mehr zu.

Bewußtseinsgeschichtlich haben wir es dabei mit den trivialen Niederschlägen eines epistemologischen Dilemmas zu tun, das von den Neurowissenschaften ausgehend sämtliche Relaistationen kulturellen Selbstverständnisses affiziert hat: dem Köhlerglauben, das Funktionieren des menschlichen Geistes nur anhand seiner pathologischen Ausnahmezustände studieren zu können. Das Menschenbild der Neurologie gleicht einem Arcimboldo-Puzzle aus Korsakows, Parkinsons, Alzheimern, Tourettes, Huntingtons, Epileptikern und Unfallgeschädigten jeder Art. Warum dieses Vexierbild Rückschlüsse auf geistige Normalzustände gestattet, warum überhaupt Anomalien repräsentativ sein sollen für die Norm, hat bislang noch niemand plausibel machen können. Fest steht hingegen, daß gesellschaftlich relevante Erkenntnisse nicht an Abweichungen gewonnen werden, sondern am Normalfall: nicht warum einer unter 100.000 zum Mörder wird, ist aufschlußreich, sondern: warum werden es alle anderen nicht? Nicht, was macht mich so einmalig, ist das rätselhaft Utopische, sondern: was teile ich mit allen anderen, wodurch eine gemeinsame Welt erst möglich wird? Doch seitdem die Losung ausgegeben wurde, daß jeder Mensch ein Künstler ist, fühlt sich niemand mehr motiviert, solchen Fragen nachzugehen. Der neurobiologische Konstruktivismus indes, der uns einredet, daß jeder Autofahrer beim Umschalten einer Ampel etwas anderes sieht, wird niemals erklären können, warum alle bei Rot halten.

Erst allmählich wird deutlich, daß im kulturalistischen Credo die Entropie jeder Kommunikation beschlossen liegt. Wenn jeder Mensch als unbeschriebens Blatt zur Welt kommt und seine Identität sich als Folge diskurspolitischer Langzeitversuche - früher schlicht Sozialisiation genannt - konstituiert, "sind die Menschen alle grundverschieden, also ist bei jedem alles anders". Warum Wesen, die mit denselben Sprachspielen, Klamotten und Videoclips, den gleichen Gerüchen, Gerichten und Geräuschkulissen aufgewachsen sind, sich zwangsläufig mehr unterscheiden sollten als zwei Klone, die bereits in der Molekularstruktur voneinander abweichen, bleibt zwar ein Geheimnis der Kulturwissenschaften. Entscheidend ist hier, daß Diskurse niemals Individuen betreffen; sie müssen verallgemeinern und können sich dazu nicht auf Singularitäten stützen, am wenigsten jene, die am lautesten dafür werben. Man braucht sich für diese simple Wahrheit nur zu vergegenwärtigen, mit welch fanatischer Insistenz gerade der so differenzwütige Feminismus seit einem Vierteljahrhundert die Tribunalisierung der Männer betreibt, indem er von Einzelfällen auf den Gesamtbestand des Geschlechts schließt, um so institutionelle Vorrechte einzuklagen.

Vor dem Hintergrund deutscher Konsensbedürftigkeit hat der infinitesimale Partikularismus der Erkenntnisinteressen zu einem kulturellen Klima geführt, das man in Umkehrung einer berühmten Formel Marcuses als permissive Intoleranz bezeichnen kann: alles ist möglich und erlaubt, sofern es nicht das Prinzip selbst in Frage stellt. Jede auch nur halbwegs satisfaktionsfähige Position, die Ausweichen oder Abwiegeln unmöglich macht, wird sogleich als einseitig oder pauschal denunziert, ihr Fürsprecher der Polarisierung gescholten, als ob wohltemperierte Spannungslosigkeit jemals einer geistigen Auseinandersetzung förderlich gewesen wäre. Um sich unbeliebt zu machen, genügt es mittlerweile, das Wort zu ergreifen, ohne den eigenen Standpunkt sogleich zu relativieren. Nicht zufällig preist der Zeitgeist an Nietzsche vor allem, daß er zu jeder Sentenz das Gegengift parat hält; doch es geht auch unverfänglicher: man löst die Gegensätze gleich ganz auf. Offiziell gibt es bekanntlich nicht mehr Frauen und Männer, über die sich generell etwas prädizieren ließe, sondern nur noch "Menschen"; desgleichen keine Deutschen und Franzosen, sondern "Europäer"; keine kriegerisch-rückständigen und friedlich-hochentwickelten Kulturen, sondern plane ethnische oder nationale Diversität. Mit den Kulturen ist es aber wie mit den Geschlechtern: mit der Ambivalenz der Fremdheit und der agonalen Spannung schwindet jedes psychische Motiv, sich für die großzügig gleichgeschaltete Andersheit überhaupt zu interessieren. Ohne unaufhebbare Differenzspannungen wird eine Beziehung nicht gestaltet, sondern das Fremde - und sei es durch "Verstehen" - einverleibt, die Andersheit bestenfalls hedonistisch konsumiert. Das liegt in der Logik liberaler Indifferenz und darf sogar als mildernder Umstand für die fahrlässigen Urteile höchstrichterlicher Instanzen zum Status von Religionsgemeinschaften gewertet werden.

Zur ethischen Unverbindlichkeit gesellt sich prompt, wie sollte es anders sein, die ästhetische Beliebigkeit. Soviele Individuen, soviele Interpretationen. Schon zögern Kritiker, zwischen guten und schlechten Büchern zu unterscheiden, Dummheit rundheraus beim Namen zu nennen, Unbedeutendes oder Geschmackloses einfach zu ignorieren und verschanzen sich immer häufiger hinter Vorlieben und Abneigungen. Bald werden wir ohnehin nicht mehr über Geschmack streiten und etwa einen Pomerol mit guten Gründen einem Trollinger Vulkanfelsen vorziehen dürfen. Öffentlich zugelassen werden nur noch persönliche Ansichten und Meinungen statt überprüfbarer Tatsachen und kontextunabhängiger Wahrheiten und spätestens dann allerdings dürfte auch die letzte harte Unterscheidung, die zwischen Opfern und Tätern, derart aufgeweicht sein - Peter Handke hat es vorgemacht -, daß man die Spirale des Relativismus wieder in die Asservatenkammer der Begriffsgeschichte wird einschließen müssen, weil sonst das gesamte Rechtssystem zusammenbricht. Solange aber werden wir die Rituale des kulturalisierten Bewußtseins über uns ergehen lassen müssen: die Textualisierung der Welt als einer grenzenlos dechiffrierbaren und insofern theoriefähigen; die konsequente Ausblendung der gesellschaftspolitisch dominanten Zwänge der Ökonomie; die maßlose Überschätzung der Relevanz neuer Medien für die Lebensgestaltung der Menschen; die mit jedem Technologieschub mal euphorisch, mal melancholisch angestimmten Nekrologe auf den Körper; das hysterische Echo auf den jeweils neuesten - natürlich unaufhaltsam auf uns zukommenden - Trend aus Kalifornien oder dem MIT; die Entwertung leiblicher und sexueller Integrität zum Rohmaterial für vermeintliche Befreiungsexperimente; die alarmistische Beschwörung einer biomedizinischen Machbarkeit, die allenfalls noch von der Pharmaindustrie, aber von keinem seriösen Grundlagenforscher geteilt wird.

Man erkennt in diesem paradoxen, von Baudrillard Anfang der 80er Jahre inaugurierten Futurismus, am apokalyptischen Gestus ebenso wie an der Beschleunigungsrhetorik unschwer eine Haltung wieder, die in der Kunst und Kultur des 20. Jahrhunderts eine zentrale und durchaus zweideutige Rolle gespielt hat: die Identifikation mit dem Agressor. Soweit es um die Subversion traditioneller, religiöser oder politischer Bevormundungen, also historisch diskreditierter symbolischer Sicherungen ging, ist das rückblickend sicher zu begrüßen; doch unterschwellig wurde schon damals in Angriff genommen, was erst mit zunehmender Entfernung von der übermächtigen Katastrophenrealität der Jahrhundertmitte ins nominalistische Visier geriet: die Infragestellung der fundamentalen biologischen Tatsachen unserer Existenz. Der Faszination des "totalen engineering" (Botho Strauß) ist der Kulturalismus schon darum erlegen, weil er auf den nachlassenden Druck des Realen - also des Ernstfalls riskanter Lebensbewältigung - mit einer Theorie des Verdachts, also mit einer massiven Schwächung des Realitätsbewußtseins antwortet, statt sich im Beharrungsvermögen des Körpers des mächtigsten Verbündeten im Widerstand gegen die Diktatur der Beschleunigung und des Machbaren zu versichern. Und statt plausibel zu machen, warum fast alle Erkenntnisse der Naturwissenschaft für unsere Orientierung in der Welt etwa so relevant sind wie die angeblich morgens nicht aufgehende Sonne, hat er sich von der Quantenphysik buchstäblich den Stuhl unterm Hintern in schwirrende Atome auflösen lassen.

Auf dem Spiel steht demnach mehr als die systemtheoretische Entschärfung des Kulturbegriffs (Dirk Baecker: Wozu Kultur?) zugestehen möchte: nämlich nichts weniger als die gesellschaftliche Verständigung über die grundlegenden Evidenzen, auf die ein Mensch sich verlassen können muß, um nicht bloß zu überleben, sondern mit Würde und auf eine weder für sich noch für andere zerstörerische Weise durchs Leben zu gehen. Dazu gehört ein ungebrochenes Vertrauen zum Zeugnis der Sinne und zu den leiblichen, insbesondere sexuellen Erfahrungen - und keine "Kultur", die suggeriert, daß alle Identität virtuell, fiktional, androgyn, nomadisch, schizoid oder sonstwie beliebig konstruierbar und austauschbar sei. Dazu gehört aber auch ein projekt-, umfeld- und situationsbezogener Begriff von Sinn - und keine Dekonstruktion sinnübertragender Mechanismen, die die Individuen kompensatorisch wieder in die Arme der Religion treibt. Der in seine Selbstreferentialität verliebte Kulturalismus, der ostentativ den Peripetien der Software-Entwicklung hinterherhechelt, um sie ästhetisch, theologisch, medienontologisch oder wie auch immer zu metaphorisieren, verschleudert das in Jahrtausenden künstlerischer Imagination akkumulierte mythopoietische Potential, das Transzendenzbedürfnis der Menschen - ihr Verhältnis zu den Mysterien von Tod und Geburt, Liebe und Leid, Schönheit und Erkenntnis - ohne die autoritären Kodifizierungen des Monotheismus zu entfalten. Erst eine Emanzipation der Ich-Identität vom Gott-Schöpfer-Führer-Modell aber, die nicht in ihr Gegenteil, in regressive Patchworkphantasien umschlägt, würde die Menschheit in den Stand versetzen, erwachsen zu werden.

Zu dieser Reife würde dann die Souveränität gehören, es endlich offen lassen zu können, wovon wir wirklich geprägt sind. Vielleicht verkennen beide Seiten, Biologisten wie Kulturalisten die Bedeutung determinierender Faktoren, die bislang offenkundig dazu herhalten müssen, den jeweiligen Gedankengebäuden die nötige Kohärenz zu verleihen. Daß wir um die Aufrechterhaltung unserer Vitalfunktionen - der physischen wie der geistig-seelischen - nur noch im Krisenfall kämpfen müssen, berechtigt noch lange nicht dazu, die basalen Selbstverständlichkeiten, denen sie sich verdankt, dem Verdacht einer Wirklichkeit zweiter Hand auszusetzen. Die Möglichkeiten eines freieren Umgangs mit ihnen auf der Basis einer Anerkennung ihrer empirischen Faktizität sind jedenfalls noch lange nicht ausgeschöpft, zumal wir jetzt erst beginnen, die Zusammenhänge zu verstehen. Hier kann die Kunst den Weg aus der deterministischen Falle weisen. Als Emergenz der Kultur - Auftauchen eines Neuen oder Uralten, einer singulären Bedeutsamkeit - erneuert sie mit jedem Werk den Übergang vom Natur- in den Kulturzustand. Die Kunst ist Kultur in statu nascendi, in gewisser Weise ein Drittes zwischen Natur und Kultur, zwischen Gewordenem und Gemachtem, das immer wieder mit dem Rätsel seiner Entstehung konfrontiert, die sich weder auf Angeborenes noch auf Angelerntes zurückführen läßt. Und mit den meisten Naturwissenschaftlern teilen Künstler das Wissen - das mimetische Gespür, die melancholische Ahnung -, daß die Natur für alle Probleme die denkbar besten Lösungen bereits erfunden hat: man muß sie nur entdecken und darstellen. Bis zum endgültigen Sonnenuntergang werden sich kulturelle Errungenschaften im kosmologischen Ausmaß auch weiterhin ausnehmen wie unsere kalendarische Periodisierung der Zeit im Vergleich zu ihrem Vorbild, der zyklischen Struktur alles Lebendigen. Etwas mehr Bescheidenheit also, und vor allem: Respekt.

Erstabdruck: Basler Zeitung Magazin vom 9.Juni 2001