Daniele Dell'Agli


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mein jüngstes gericht

manchmal, wenn ich brach liege und neben mir,
von allen gliedern verlassen, ein sack gestopft mit allem, 
was mir fremd war, zu prall noch, um auf den grund des schlafs 
zu sinken und zu schwer schon, um an den rand eines gesichts zu tauchen, da dreht es
sich in mir um, da 
reckt es und richtet sich's langsam in mir auf:
dieses tote, dieses totgesagte, totgeglaubte 
meiner ahnen meiner gleichen meiner selben,

das zurückfließt aus staunischen und brennkammern,
aus säurebädern, kloaken und laderampen, 
aus zahntaschen und ventrikeln, mitochondrien und blutbahnen, 
aus warteschleusen sezierbändern müllhalden,
aus allen angstlücken und mastwinkeln und hungerschleifen  

dieses rumpfes herbeiströmt, sich zusammenschiebt, 
zusammenflickt, bald eine schlange, die ausrollt, 
hinaufschwillt den schacht, bald eine faust, geballt
in die bauchdecke gerammt, die klauen verkrallt
in die schleimwand -: klagt es gestalt ein,

dieses grunzende brüllende blökende schnalzende
dieses fiepende, quäkende, gackernde, quietschende,
der ganze unverdaute stimmenmob unserer vorgeschichte, 
unserer mitgeschichte, unserer stoff- und verwandlungsgeschichte -

manchmal steht es auf und wird laut
und geht durch mich und wird ich
und schnaubt mich und faucht mich und jault mich, 
eine herde verwesender klänge, kakophonisch verkeilt
zwischen kessel und schlund, treibt es und würgt es und schüttelt
die revolte herbei, den zwei-finger-erlöser, die seelen-
schleuder für den lachssprung ins freie...

draußen, im gemeinsamen magma, ausgegossen zwischen bebenden gliedern, endet 
die verschwörung der sekrete, die erstickte ekstase.
ihr keuchendes echo öffnet das exil der organe,
das gespür für form und kontur kehrt zurück, 
und was im orkus brodelte und zischte und zuckte, 
flüchtet als ätzender hauch von der pfütze...


bloß nicht die augen schließen, das wäre das ende, 
es schwappte wieder hoch aus seinen mehligen, 
klumpigen, breiigen, zwischen zähne und zunge und hände 
gerissenen worten käme das getümmel zurück, dieses tranige, 
schweflige, verpißte überstürzte sich wieder
dieses zähe, wabblige, knotige; 
dieses knochige, sehnige, pöklige, 

das mich anstarrt mit seinen futtergrimassen, 
seinen glotzaugen, blöde, gierig nach jedem köder 
schnüffelnd, schnappend, sabbernd, schaumtriefend, 
schwanzwedelnd, rüsselschwenkend, nüsternblähend:
starrt mich an und kann es nicht fassen - 
aufgespießt an seinen abziehwörtern, seinen zuchtwerten, 
an dressurbefehlen, schlachtstempeln, kennmarken, steckbriefen;
mit allen fasern aufgehängt am skelett der grammatik 
abgedeckt und geschächtet, modal abgetropft, 
parataktisch zergliedert, entgrätet, zermahlen...

dieses gnadenlos kompatible, das sich ablagert, transgen,
überall, an den synapsen lauert, in kontaktzonen knirscht, 
durch hormonflüsse flottiert, unter angeschlemmten lipiden
auf seine stunde wartet, dieses pferdestolze, schafsdumme, 
wildscheue, fischstumme, schweinsfette, lammfromme, 
hasenfüßige, schnattergänsige, das wir ständig nachäffen, 
unersättlich, immerzu wiederkäuen, überwältigt

von dieser täglich aufgetischten und abgespeisten, 
mit jedem atemzug nachwachsenden und zerfallenden füllung welt; 
für dieses immer zu junge oder zu alte, runzlige oder schlaffe, überschwengliche oder 
jammernde, jauchzende oder zeternde,
dieses das, dieses bulimische neutrum, dieses selberschuld, 
dieses mit jedem stich nach rache schreiende, 
nach jüngstem gericht kokelnde, züngelnde, lechzende - : fleisch.

manchmal, wenn es uns vertreibt aus unseren künstlichen paradiesen, 
wenn es den trott von schmerz und genuß unterbricht,
wird es wieder wort, und wohnt unter uns, und wir heißen es leib.
und der hunger verstummt unter der dünnen kruste der bedeutungen,
und die brocken reiner lebenskraft schmecken nach vergänglichkeit. 



ich sage: ausgeweidet - und sehe nichts.
ich sage: zerfleddert - keine reaktion.
niemand wird ausgespuckt, niemand wiedergeboren. 
nicht im stück. aber irgendwann öffne ich das grab, 
breche ich das siegel des singularetantums,
diesen rosenkranz hartgesottener vorwürfe.
ich zerfetze das schleppnetz des schlechten gewissens, 
ich hole euch raus, bestimmt, aber nicht heute, nicht jetzt.
weckt mich, wenn ihr bereit seid.

der schweißfilm trocknet, die frischhaltefolie
meines alptraums platzt, und heraus schält sich 
etwas verquoll'nes, weithergekommn'es, ein gesicht
wie vom durchlauf der mutanten aufgebraucht.
dann sitze ich lange vor dem offenen kühlschrank
und starre mich leer