Daniele Dell'Agli : Vita : Legende


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verlustanzeigen. ein curriculum

von anfang an den faden das ganze die brust

bald schon die geduld, 
den boden unter den händen, die milchzähne pünktlich,

eine schwester, hieß es später, noch im mutterleib.
daraufhin die blonden locken, das rundlich
unbekümmerte, den schelmenblick.

mit jedem umzug spielgefährten und geheimnisse, 
käfer, schildkröten, heimat sowieso,
und mit zehn zum ersten mal den vater.

damals schon, durch ein loch in der tasche - oder war es
die herzklappe - täglich aufs neue die hoffnung, 
ich weiß nicht worauf, aber es war die hoffnung.

dann die sprache in der fremde, nein, das muß ein anderer
gewesen sein. ich fand sie dort erst. die meiner mutter, 
die klebrige schluckte ich runter, sie blieb

mir in der kehle stecken.

in der schule danach wiederholt den anschluß, 
die konnten mich mal, im anschluß rückblickend den sinn, 
im sinn hatte ich wohl anderes, weiß nicht mehr was.

inzwischen den knabensopran, das war vorauszusehen,
und auf dem weg zur ersten kommunion meine letzten manschetten
(wie, weiß ich bis heute nicht) und den glauben dazu 

- oder was von ihm übrig war.  

und dann und wann ein quentchen lebensangst

mit der neuen sprache allmählich die schatten der kindheit, 
chronische magenschmerzen, verwandte, ödipus, das übliche.
um den großvater, faschist, war's nicht schade.

überhaupt die familie ziemlich früh, das nennt man glück
- oder zumindest glück im unglück. und in den träumen nachts
die verzweiflung vom tage, vom alleinsein mit den träumen.

vertrauen also längst schon - ich meine nicht 
weltvertrauen, bin kein gnostiker - und den respekt 
vor den älteren, versteht sich, dabei ist es geblieben.

und zeit natürlich, immer schon, am strand, in der dämmerung, 
in kosmischen pausen, in circadianen, immerzu zeit, abwesend 
vor horizonten, hinter fenstern, vor dem fernseher später...

immer wieder den faden das ganze die lust

das herz, oder was ich dafür hielt, bei der ersten liebe, doch 
es war wohl eher der verstand, der war fällig; und die welt 
aus den augen, aber die kam wieder, hinterher ist man klüger, 

nicht immer, und die liebe auch.

als nächstes waren die mandeln dran, oder
die vorhaut, wegen der geilheit, oder umgekehrt, 
was spielt das für eine rolle, beide male jedenfalls 

das bewußtsein, das will was heißen.

nach der zweiten liebe die unschuld, eher beiläufig,
und tränen dazu, nicht zum ersten mal, aber reichlich.
und eines tages, plötzlich, den vater. diesmal für immer.


während des studiums die ehrfurcht vor großen namen, 
endlich die scheu vor eigenen entwürfen, spät zwar, 
dafür gründlich; bescheidenheit, ohnehin nicht meine stärke

und toleranz, falls ich sie je besessen -
gegenüber dummheit und fanatismus und allem, was krach macht, 
vögel, mopeds und kinder, italiener eingeschlossen.

hemmungen, sicher, die leidenschaft, was soll man machen, auch 
(besonders) beim autofahren, die schiere unvernunft. einmal sogar 
die kontrolle über den wagen, einmal und nie wieder (das ist gelogen).

und dann und wann ein quentchen lebensangst

aber den blinddarm bis heute nicht, auch keine bandscheibe, 
trotz vorfall. selten das blut aus der nase und von den zähnen 
nur die mit der weisheit. darauf kann ich verzichten.

und auf selbstmitleid. zugegeben, die heiterkeit war oft 
nicht zu halten und so mancher freund nicht. und die große liebe 
- wenn sie es denn war -: ich konnts nicht verhindern.

so langsam also die hälfte des lebens, den großteil der illusionen,
ein paar bedingte reflexe. aber die jugend noch nicht ganz, sagen die
frauen. und die kindheit? nein, die ganz bestimmt nicht.

und nicht den konjunktiv, den sarkasmus, weder hypallagen
noch aposiopesen, den daktylus nicht und vor allem nicht
die abtönungspartikeln; dafür jede menge gedanken, nein 

das ist übertrieben, aber einige schon, die ganz scheuen, 
die nur kurz an die oberfläche tauchen, wie meeressäuger, um luft zu 
schnappen. kaum fasse ich sie, schlüpfen sie davon (zu jemand 
anderem vielleicht, jemand mit festerem griff oder griffigen worten)


das gedächtnis? ich kann mich nicht erinnern. 
allenfalls den schlüssel zu dieser oder jener tür (sofern man bei einem 
taubenschlag von türen sprechen kann).

dieses ich jedoch, das kommt gelegentlich abhanden, 
meist ein kurzer stromausfall, kein grund zur panik, 
irgendwer drückt immer die sicherung (wenn ich den erwische). 

den boden unter den füßen mithin, daran kann man sich gewöhnen.
und gewohnheiten? doch, selbst die, schlechte wie nachtliköre 
oder banküberfälle, und gute, die sogar eher 

(ich verrat aber nicht welche).

und immer wieder den mut bei den frauen, selbst heute noch, 
bei den deutschen zumindest, die bitterkeit wiederum 
bei der musik (der deutschen zuweilen)

immer wieder den faden das ganze die lust

ja, auch die lust. zum beispiel die, einer schönen unbekannten 
zuzulächeln, eh mich ihre starre überkommt; oder 
mit einem schrei die leere zu verscheuchen, 

die ein verpaßter augenblick hinterläßt - überhaupt 
manchmal die lust, weiterzumachen oder schluß-
zumachen oder neu anzufangen 

(aber nur manchmal).

zeit also, das hatten wir schon, und mit der zeit
das interesse an diesem und jenem, an die vergangenheit, 
an dinge die veralten und gelegentlich, wenn's gutgeht, 

an die zukunft.


und dann und wann ein quentchen lebensangst

aber niemals die sonne, das meer; 
wind, wolke und wald; niemals die schwerkraft, 
den wanderschmerz, den schwefligen ätnageruch an der haut,

niemals... ich komm jetzt nicht drauf... war wohl nicht wichtig...

die übersicht? na wenn schon. die nerven dafür zunehmend weniger, die 
träume beim aufwachen seltener (das bringen die jahre mit sich), und wenn 
das so weiter geht...

eines tages... 

... sogar den widerstand gegen offen biographisches 
im gedicht, und gegen offene, widerständige formen 
fürs selbstverliebte, mit erfahrung prahlende parlando 

(das gibt sich wieder)

*

wie bitte? das zeitwort? wo? hier? gerade eben? die ganze zeit schon? 
nein, das täuscht.
das ist die spielregel. 

das leben.